Das Licht der Flüsse
seines
Vaters gerecht werden noch seine eigenen Träume realisieren konnte, versank er immer wieder in Depressionen. »Ich bin leer,
nutzlos: ein Blatt auf einem Fluss, ohne Willen und ohne Ziel«, schrieb er 1870 in sein Notizbuch. Das einzige Mittel gegen
die innere Leere und Perspektivlosigkeit war die Phantasie. Tatsächlich erschien ihm seine lebhafte Vorstellungskraft gelegentlich
wie eine Droge: »Ja, ich habe mehr feinstes Opium in meinemGehirn als jeder Apotheker in seinem Laden«, notierte er über die Tagträume, die ihn oft stundenlang bannten, aber ebenso
fruchtlos verdunsteten wie echte Rausch- und Betäubungsmittel.
Thomas Stevenson war sich durchaus bewusst, dass sein Sohn unglücklich war. Ein vertrauliches Gespräch führte schließlich
zu einem Kompromiss: Robert durfte das ungeliebte Ingenieurstudium aufgeben, sollte jedoch zumindest einen seriösen Beruf
erlernen und eine Anwaltschaft anstreben. Nach gelungenem Abschluss des Studiums sollte er eine gewisse Geldsumme erhalten,
die ihm einen guten Start ins Berufsleben ermöglichte – ob als Jurist oder Schriftsteller. Der Vater ging davon aus, dass
sich die Probleme bis dahin von allein verflüchtigt haben würden, und der Sohn war froh, keine Leuchttürme bauen zu müssen.
Er bevorzugte Luftschlösser.
Entsprechend führte der Neubeginn zu keinem anderen Lebenswandel. Im Gegenteil: Er fand in Walter Simpson und William Ernest
Henley neue Freunde, die seine Interessen teilten und ihm halfen, erste Essays in Literaturzeitschriften unterzubringen. Dem
Studium widmete er sich mit denkbar geringem Eifer, stattdessen war er häufig bei Professor Fleeming Jenkin zu Gast, der in
seinem Haus private Theateraufführungen organisierte. Als Louis 1873 Verwandte in Suffolk besuchte, lernte er den Kunstkritiker
Sidney Colvin kennen, der zu seinem wichtigsten Förderer wurde, und Mrs. Frances Sitwell, die Beziehungen zu zahlreichen jungen
Künstlern und Schriftstellern pflegte und in der er, obgleich sie wesentlich älter war, eine scharfsinnige Zuhörerin und gebildete
Freundin fand.
Im selben Jahr erreichten die Spannungen zwischen Vater und Sohn einen neuen Höhepunkt. Louis hatte seine Zweifel an der christlichen
Religion gestanden, was die frommen Eltern über alle Maßen schockierte. Seelisch und gesundheitlich angeschlagen, erschien
er bei Mrs. Sitwell, die ihn, entsetzt über sein abgemagertes, kränkliches Aussehen, an einen Londoner Lungenspezialisten
vermittelte, der ihm sogleich einen längeren Aufenthalt in einem gesünderen Klima verschrieb. Stevensons Reise nach Menton
in Südfrankreich war nicht die erste und die letzte, die er aus gesundheitlichen Gründen unternahm. Er war mit seinem Freund
Walter Simpson, dem Sohn eines berühmten Edinburgher Arztes, bereits im Vorjahr nach Frankfurt und Baden-Baden gereist und
besuchte in den folgenden Jahren mehrfach seinen Cousin Bob Stevenson, der in Cambridge und Antwerpen studiert und sich einer
Gruppe von Landschaftsmalern angeschlossen hatte, die den Sommer in Barbizon, in der Nähe von Fontainebleau, verbrachten und
später in den ruhigeren Ort Grez-sur-Loing umzogen.
Louis hatte seinen Cousin Bob stets bewundert und auch ein wenig beneidet, denn dieser führte wirklich das Leben eines Künstlers
und Bohemiens, wie er das selbst gern getan hätte. Doch musste er zurück an die Universität, um seinen Abschluss zu machen.
Er bestand zur großen Überraschung aller Beteiligten seine Prüfungen und bekam im Juli 1875 seine Zulassung als Anwalt. Die
stolzen Eltern hatten bereits voreilig ein Schild mit der Aufschrift »R. L. Stevenson, Rechtsanwalt« an der Haustür anbringen
lassen, doch sollte ihr Sohn seinem neuen Titel nie gerecht werden.
Im Sommer 1875 kehrte er mit Walter Simpson nachFrankreich zurück, besuchte Bob in Barbizon und unternahm mit seinen Freunden mehrere Wanderungen. Er kokettierte mit dem
Habitus des armen, aber freien Künstlers und Vagabunden und pflegte gern ohne allzu viel Gepäck und in einem eher rustikalen
Aufzug auf Wanderschaft zu gehen. Als er einmal sogar seinen Pass vergessen hatte, wurde er von einem übereifrigen Polizeibeamten
in Châtillon festgehalten, der ihn für einen Deutschen hielt, und erst einige Stunden später von seinem Freund Simpson befreit,
dessen weltmännisches Auftreten an seinem gesellschaftlichen Rang und seiner Nationalität keine Zweifel ließ. Stevenson liebte
es, auf diesen
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