Das Licht der Phantasie
streckte der Tourist die Hand aus und berührte vorsichtig die Wand.
»Sie ist klebrig!«
»Nougat«, erklärte Swires.
»Ich kann’s kaum fassen! Ein echtes Knusperhäuschen! Rincewind, ein echtes…«
Der Zauberer nickte bedrückt. »Ja«, erwiderte er verdrießlich. »Der sogenannte Zuckerbäckerstil in der Architektur. Hat sich nie durchgesetzt.«
Mißtrauisch beäugte er den Türklopfer aus Lakritze.
»Irgendwie erneuert es sich immer wieder«, sagte Swires. »Ein echtes Wunder, nicht wahr? Heutzutage findet man so etwas nur sehr selten. Man kann einfach nicht genug Lebkuchen auftreiben.«
»Im Ernst?« fragte Rincewind und schnitt ein finsteres Gesicht. »Laßt uns hineingehen«, sagte der Gnom. »Aber achtet auf die Fußmatte.«
»Warum?«
»Sie besteht aus Zuckerwatte.«
D ie große Scheibe drehte sich langsam unter einer schuftenden Sonne, die endlich Feierabend machen wollte. Das Tageslicht strömte fort, und in tiefen Mulden sammelten sich einige Reste, die schließlich versickerten. Die Nacht brach an.
Trymon saß in seinem kühlen Zimmer in der Unsichtbaren Universität, über ein Buch gebeugt. Seine Lippen zitterten lautlos, während er mit dem Zeigefinger über die manchmal recht seltsamen Symbole einer uralten Schriftsprache strich. Er las, daß die Große Pyramide von Tsort (die längst nicht mehr existierte) aus einer Million und dreitausendzehn Kalksteinblöcken errichtet worden war, erfuhr weiterhin, daß bei dem Bau zehntausend Sklaven ums Leben kamen. Angeblich erstreckte sich im Innern des gewaltigen Gebäudes ein Labyrinth aus geheimen Gängen, und die wesentlichsten Bestandteile der vielgerühmten Tsort-Weisheit zierten die Wände. Die Höhe und Länge, geteilt durch die Hälfte der Breite, ergaben genau 1,67563. Anders ausgedrückt: Der Wert entsprach exakt dem 1237,98712567fachen der Differenz zwischen der Entfernung zur Sonne und dem Gewicht einer kleinen Apfelsine. Sechzig lange Scheibenweltjahre vergingen bis zur Fertigstellung der Pyramide.
Ziemlich viel Mühe, um den Göttern näher zu sein, dachte Trymon. Die zehntausend Sklaven, die bei der Arbeit zu Tode geschunden wurden, haben dieses Ziel wesentlich schneller erreicht.
Zur gleichen Zeit, im Wald von Skund, knabberten Zweiblum und Rincewind an Pfefferkuchenstücken, die sie aus dem Kaminsims gebrochen hatten – und dachten sehnsüchtig an eingelegte Zwiebeln.
Und weit entfernt auf der Scheibenwelt, die einen Kollisionskurs steuerte, was zu diesem Zeitpunkt allerdings noch niemand wußte (abgesehen vielleicht vom Tod, der sich bereits die knöchernen Hände reiben mochte), drehte sich ein berühmter Held eine Zigarette. Ohne zu ahnen, was das Schicksal für ihn bereithielt.
Mit geübtem Geschick formten seine Finger ein Objekt, das man mit vollem Recht als interessant bezeichnen konnte. Er hatte diese Kunst von den wandernden Zauberern gelernt und sich auch ihre Angewohnheit zu eigen gemacht, Stummel in einem Lederbeutel aufzubewahren und sie später für neue Zigaretten zu verwenden. Das unerbittliche Gesetz der Wahrscheinlichkeit legte den Schluß nahe, daß zumindest ein Teil des Tabaks schon seit Jahren geraucht wurde, in mehr oder weniger kurzen Abständen. Die Substanz, die der Held gerade zu entzünden versuchte… Nun, normalerweise fand sie beim Straßenbau Verwendung.
Jener Mann genoß einen so guten Ruf, daß ihn einige Reiter, die einem Nomadenstamm angehörten, respektvoll eingeladen hatten. Sie saßen nun an einem Feuer, in dem getrocknete Pferdeäpfel brannten. Normalerweise zogen die Nomaden im Winter randwärts, doch diese Krieger hatten zu lange gewartet, hockten in ihren Zelten, stöhnten angesichts der unglaublich hohen Temperatur von sage und schreibe minus drei Grad und klagten über drohende Hitzeschläge.
Nach einer Weile fragte das Oberhaupt der Barbaren: »Worin besteht der größte Wunsch eines Mannes, seine Erfüllung im Leben?« Für gewöhnlich stellten Anführer solche Fragen, um ihre Klugheit zu beweisen – oder über ihre Dummheit hinwegzutäuschen.
Der Mann rechts von ihm trank nachdenklich ein Glas Stutenmilch und Schneekatzenblut, runzelte die Stirn und gab folgende Antwort: »Die scharfe Linie des Steppenhorizonts. Kalter Wind, der einem das Haar zerzaust. Und der Ritt auf einem guten Pferd.«
Der Mann auf der linken Seite sagte: »Der Schrei des weißen Adlers, der unter den Wolken kreist. Schneefall im Wald. Und ein spitzer Pfeil auf der Sehne.«
Das Oberhaupt
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