Das Licht der Phantasie
Seitdem hat Rincewind die meiste Zeit damit verbracht, entsetzt Pfeilen auszuweichen, gejagt zu werden und über bodenlosen Abgründen zu hängen, selbstverständlich mit wenig Aussicht auf Rettung. Oder in die Tiefe zu stürzen, so wie jetzt.
Er genießt die Aussicht keineswegs, denn sein ganzes bisheriges Leben zieht an ihm vorbei, und die Erinnerungen versperren ihm den Blick auf die Umgebung. Er erfährt nun, wie wichtig es ist, nicht den Helm zu vergessen, wenn man einen Raumanzug benutzt.
An dieser Stelle könnte eine längere Schilderung folgen, die erklärt, weshalb die beiden Männer von der Scheibenwelt fallen und warum Zweiblums Koffer – der zuletzt verzweifelt versuchte, ihm auf Hunderten von kleinen Beinen zu folgen – alles andere als ein gewöhnliches Gepäckstück ist. Doch derartige Erläuterungen erforderten viel Zeit und Platz und könnten mehr Probleme schaffen als lösen. Man denke nur an den berühmten Philosophen Ly Tin Weedle, dem jemand während eines Fests die Frage stellte: »Was machst du denn hier?« Die Antwort dauerte drei Jahre.
Weitaus wichtiger ist ein Ereignis weit oben, über A’Tuin, den Elefanten und Rincewind, der vergeblich nach Luft schnappt und langsam blau anläuft. Die Struktur von Raum und Zeit wird gleich durch die Mangel gedreht.
Fühlbare Magie lag wie Staub in der Luft, und ätzender Rauch wallte umher. Er stammte von Kerzen aus schwarzem Wachs, nach dessen Ursprung sich ein kluger Mann besser nicht erkundigen sollte.
Der Raum befand sich im Kellergewölbe der Unsichtbaren Universität – dabei handelte es sich um die bedeutendste magische Schule auf der Scheibenwelt –, und wirkte außerordentlich seltsam. Zum Beispiel schien er zu viele Dimensionen aufzuweisen, die sich den Blicken des Beobachters entzogen, und gerade außerhalb seines Wahrnehmungsbereichs lauerten. Okkulte Symbole bedeckten die Wände, und das Achtgefaltete Siegel Der Stasis bedeckte den größten Teil des Bodens. In magischen Kreisen hieß es, es besitze die gleiche Bannwirkung wie ein kräftiger Schlag mit einem dicken Knüppel.
Die Einrichtung des Zimmers beschränkte sich auf ein Pult aus dunklem Holz, dem man die Form eines Vogels verliehen hatte. Besser gesagt: die eines geflügelten Wesens, das man sich nicht zu genau ansehen sollte. Auf dem Pult lag ein Buch, mit einer schweren Kette und mehreren Vorhängeschlössern gesichert.
Ein großes, aber nicht besonders eindrucksvolles Buch. Andere Bücher in der Universität wiesen mit kostbaren Edelsteinen und erlesenem Holz geschmückte Deckel auf – oder waren in Drachenhaut gebunden. Die Hülle dieses Exemplars hingegen bestand aus ziemlich schäbigem Leder. Es sah ganz wie jene Art von Büchern aus, die in den Bibliothekskatalogen als ›ein wenig mitgenommen‹ beschrieben wurden – obwohl natürlich keine Seite fehlte und niemand auf den Gedanken kam, irgendein Kapitel mitzunehmen. Ebensogut hätte man versuchen können, sich ein Stück glühendes Eisen in die Tasche zu stecken – man verbrennt sich nicht nur die Finger daran.
Metallspangen hielten es geschlossen. Sie waren nicht verziert, einfach nur dick und schwer. Wie die Kette, die nicht nur dazu diente, das Buch am Pult zu sichern, sondern in erster Linie verhindern sollte, daß es sich öffnete.
All diese Dinge erweckten den Eindruck, als habe jemand eine ganz bestimmte Absicht verfolgt – jemand, der einen Teil seines Lebens damit verbrachte, wilde Elefanten zu zähmen und widerspenstige Kobolde zu überreden, ihm den Flur zu schrubben.
Die magische Aura verdichtete sich und wogte. Die Seiten des Buches knisterten auf eine recht unheimliche und aufsässige Weise, und blaues Licht quoll zwischen ihnen hervor. Die Stille in der Kammer ähnelte einer Hand, die sich langsam zur Faust ballte.
Mehrere Zauberer in langen Nachthemden wechselten sich darin ab, durch das kleine Gitter in der Tür zu starren. Kein Magier konnte schlafen, während sich derart seltsame Dinge zutrugen: Pure thaumaturgische Energie ballte sich zusammen und zog wie eine Flutwelle durch die gesamte Universität.
»Nun gut«, erklang eine Stimme. »Was geht hier vor? Und warum hat man mir nicht Bescheid gegeben?«
Galder Wetterwachs, Oberster Meisterbeschwörer des Ordens vom Silbernen Stern, Imperialer Lord des Sakralen Stabes, Ipsissimus der Achten Stufe und dreihundertvierter Kanzler der Unsichtbaren Universität, bot einen imposanten Anblick – selbst in seinem roten Nachthemd mit den
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