Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
aus der Stadt, aus Selinas Nähe vertreiben. Wenn möglich, ihm das gestohlene Geld abnehmen – er wusste nur noch nicht wie. Sollten Nagys Killer ihn bloß woanders erledigen. Natürlichwürde ihn Mikosch wiedererkennen und glauben, Nagy hätte ihn geschickt, was ja der Wahrheit entsprach. Er würde begreifen, dass Selina in großer Gefahr schwebte. Was ebenfalls der Wahrheit entsprach.
Wer würde wen zuerst erkennen? Selina hatte sich zwischen zwei Bäume zurückgezogen. Robert bewegte sich durch den Schnee. Ruhig, bedächtig. Ein großer Mann mit großen Schritten.
Schneeräumfahrzeuge keuchten durch die Straßen. In der Luft kreiste ein versprengter Schwarm schwarzer Vögel.
»Sie Dreckskerl.«
Robert drehte sich um.
»Wo ist Selina, wo ist sie?«
Seit ihrem letzten Mal schien Mikosch sich regelrecht halbiert zu haben. Sein Mantel schlotterte an seinem Körper, einem kurzen Strich in der Landschaft. Seine papierdünne Haut war eingefallen und wellig – wie nasse Pappe. Tiefe Furchen hatten sich kreuz und quer durch sein Gesicht gezogen.
»Also hat Nagy Sie geschickt – ja, warum denn nicht. Was haben Sie mit Selina getan? Sie sind der Freund, von dem sie mir erzählt hat … natürlich dachte ich an einen anderen … dachte nicht, dass ihr schon so nahe seid.«
Robert sagte: »Mit dem Nachdenken hätten Sie besser schon viel früher beginnen sollen. Jetzt ist es zu spät. Einen Mann wie Bela Nagy bestiehlt man nicht.«
»Wie kann man etwas von einem Dieb und Gauner stehlen?«
»Ich bin nicht Ihr Feind, Mikosch.«
»Wo ist Selina?«
»In der Nähe.«
»Ich will sie sehen. Ich will sehen, dass es ihr gut geht.«
»Und dann? Was sagen Sie ihr dann? Dass Sie einem russischen Mafioso Geld gestohlen haben. Mal abgesehen davon, dass Sie Ihre Familie vor Jahren sitzen gelassen haben undjetzt, wo Ihnen der Arsch brennt, zurückkommen … für was? Ein letztes Hurra? Daddy ist wieder zurück – und schaut mal, was ich mitgebracht habe. Blutgeld. Ihr Blut, Mikosch.«
Der kleine Mann zitterte heftig. Mikosch war fertig, am Ende. Er war noch nicht lange auf der Flucht, sah aber wie ein Mann aus, der sich seit Jahren nur noch umblickte. Und so war es wohl auch. Nicht wirklich gemacht für die Schattenschneise. Robert machte einen Schritt auf ihn zu.
Mikosch wich zurück. Seine rechte Hand fiel wie erschlafft in seine Manteltasche.
»Geben Sie mir das Geld und verlassen Sie die Stadt«, sagte Robert.
»Was würde das ändern?«
»An Ihrer Situation? Nichts.«
»Gar nichts?«
»Kommen Sie, Sie wissen, dass Nagy so etwas nicht durchgehen lassen kann. Diese Leute besitzen eine blutige Form von Moral. Biblisch, könnte man sagen.«
»Diese Leute … die sind auch Ihre Leute.«
»Ja, das sind sie.«
Das waren sie, dachte Robert. Das waren sie.
Robert sagte: »Ich würde gerne verstehen, warum Sie …«
Er hielt inne, als er den Lauf des Revolvers bemerkte, der auf seine Körpermitte zielte. Er war viel zu groß und viel zu schwer für Mikoschs kleine schwache Hand. Robert hätte sie ihm mühelos entwenden können – spätestens wenn er noch einen weiteren Schritt tat. Robert verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, und Mikosch schüttelte den Kopf, als er die Veränderung wahrnahm.
»Oh nein, lassen Sie das. Sonst … Ist mir scheißegal. Ich drücke ab. Ich kann das. Ich habe in den letzten Tagen eine Menge Dinge an mir entdeckt, von denen ich nichts wusste.«
Robert hob die Hände auf Brusthöhe, ließ sie dann langsam sinken.
»Ich tue Ihnen nichts.«
Mikosch lachte.
»Ich weiß. Wir sind beides keine Killer. Wenn ich nicht solche Angst hätte, würde ich mich kaputtlachen. Waffen und ich passen einfach nicht zusammen. Ich habe nicht mal meinen Wehrdienst geleistet.«
Mikosch reckte seinen Hals und blickte an Robert vorbei. Robert drehte sich um und sah Selina, die zwischen den Bäumen hervortrat. Aus Mikosch kam ein undefinierbarer Laut.
»Stecken Sie die Waffe weg«, sagte Robert.
»Was haben Sie mit ihr vor?«
»Ich will sie aus allem raushalten, aber das kann ich nicht, wenn Sie in ihrer Nähe sind. Nagys Leute sind bereits unterwegs, und ich soll Sie denen ausliefern.«
»Dann wäre es wohl das Beste, ich würde mich stellen, oder?«
Robert sagte: »Ja. Nein. Ich weiß es nicht.«
»Das hier ist anders als das, was Sie sonst für ihn tun, nicht wahr?«
»Ja, ist es.«
»Damit haben Sie Probleme?«
»Sie wissen gar nichts, Mikosch. Sie sind ein dummer Mann.«
»Ja,
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