Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
und bewegungslos war, und es ihm keine Mühe bereitete, ihr ein Grab auszuheben und sie im Dreck zu entsorgen. Er erinnerte sich an das panische Flackern in ihren Augen, wenn wieder eine Schippe Erde auf ihr landete. Wie es sein kaltes, kaltes Herz wärmte.
All dies würdest du Abraham so gerne erzählen, ihm davon erzählen, dass es noch viel mehr Frauen wie deine Mutter gibt, sie sind über das ganze Land verstreut, ihre toten, zerstörten Gesichter vergraben, verwest, verfault, schreien stumm in der Hölle.
Plötzlich schwappte ein Strom schlechter Gedanken durch seinen Kopf, so als wären sie von jemandem dort implantiert worden, einen Moment lang fühlte es sich an, als sähe er die Welt durch die Augen eines anderen, der sich vor ihm verborgen hielt, es fühlte sich an wie der Beginn einer schweren Krankheit. Abraham krümmte sich, hielt inne, den Wagenschlüssel in der Hand, und blickte sich um.
Endlose Reihen verschlossener Türen und Fenster. Verkehrsgeräusche, fern und unwirklich. Sein Atem gefror in der Luft. Er zitterte.
Einige Jugendliche, vermummt wie Terroristen auf ihremMarsch durch die Wüste, umkreisten ihn kurz wie ein Rudel Raubtiere, nahmen Witterung auf und überlegten, ob es sich lohnte, über ihn herzufallen. Kurz war er versucht, ihnen seine Marke zu zeigen – als hätte diese ihn ernsthaft schützen können. Die Meute entschied sich dann allerdings dagegen und joggte in geschlossener Formation zur nächsten U-Bahnstation; da unten war es viel gemütlicher und versteckter, um jemanden den Schädel einzuschlagen und abzuziehen.
Das war unverdientes Glück, dachte Abraham, denn er hätte ihnen alleine nichts entgegensetzen können, heutzutage waren diese Halunken so flink und tollwütig und zielten grundsätzlich auf den Kopf. Die Zeiten haben sich eben geändert, hieß es dann. Als wäre es früher tatsächlich besser gewesen. Abraham hätte ihnen allen etwas anderes erzählen können. Er entspannte sich wieder.
Er wusste, dass sein Glück das Unglück eines anderen bedeutete; nun, so lief es eben.
Als könnte er sich wirklich damit abfinden. Konnte er nämlich nicht. Das war sein Problem.
KAPITEL
SIEBENUNDZWANZIG
»Was hast du, Robert? Mein Gott, du bist ja ganz blass.«
»Glaubst du an Gespenster, Robert?«
»Nein.«
»Das solltest du aber.«
Nagy hatte es gewusst, Nagy hatte vorhergesehen, dass es für Robert keine unbeschadete Rückkehr nach Berlin gab. Schon gar nicht hier am Potsdamer Platz. Und ihm war, als fiele er auseinander, als setzte er einen Schritt von heute ins Gestern und den nächsten von gestern ins Heute, weil sein Kopf zwischenbeiden nicht mehr unterschied. Er drohte zu zerreißen – so wie Mikosch, der Mann aus Papier. Es war Selinas besorgte Stimme, die ihn zurückholte und verankerte – vorerst. Robert rückte sich zurecht, was ihm nicht leichtfiel.
In diesen Tagen fiel ihm überhaupt nichts leicht. »Vielleicht sollten wir es einfach lassen«, sagte sie. Sie saßen in dem BMW, den er bei Sixt gemietet hatte, und warteten, bis ihnen buchstäblich die Stunde schlug, und stiegen dann aus.
»Du kannst nicht immer weglaufen, Selina«, sagte er und hätte sich dabei am liebsten selbst geohrfeigt, denn wenn auf jemand dieser Satz zutraf, dann auf ihn. Sein ganzes Leben lang. Und wer weiß, vielleicht gab es ja keine Zufälle. Vielleicht hatte Mikosch ihn deshalb hierherbestellt – an einen öffentlichen Platz, wo er sich in relativer Sicherheit vor unliebsamen Überraschungen befand. Dass sich Roberts Leben, seine ganze Existenz mit dem Potsdamer Platz verknüpfte, konnte Mikosch nicht wissen, aber der große Zampano, eifrig damit beschäftigt, ihre Körper und Seelen zu beschriften, der wusste, was er tat.
»Halt dich zurück, bleib im Hintergrund«, sagte Robert zu Selina. Das war ihr Plan.
Selina hatte ihren Vater angerufen. Die ganze Zeit über hielt sie das Handy ans Ohr, als hinge ihr Leben davon ab, und sie hatte die Augen dabei geschlossen, als schliefe sie und träumte die andere Stimme nur. Robert hielt ihre Hand. Mikosch hatte den Treffpunkt Henriette-Herz-Park zwischen dem Beisheim und dem Sony Center bestimmt. Er wollte nicht zu Selina nach Hause kommen. Er klang wie ein gehetzter Mann. Was er auch war, dachte Robert. Und nun würde ihm anstatt Selina ihr Freund entgegentreten – vordergründig, um die Lage zu sondieren, um das Treffen zwischen ihm und seiner Tochter vorzubereiten. Tatsächlich hatte Robert anderes vor. Er wollte Mikosch
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