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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cyrus Darbandi
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Milchglasscheibe, als etwas nicht Greif- und Identifizierbares zu fürchten begann. Er war nicht mehr Zuhörer, sondern Beobachter eines grotesken, erbärmlich-grausamen Schauspiels.
    Zwei Kinder, die sich durch eine stinkende Müllhalde von weniger als vierzig Quadratmetern bewegten, die neben scharfkantigen Konserven, zerbrochenen Einmachgläsern, deren Inhalt längst verfault war, feuchten, verschimmelten Zeitungshaufenund gammligen Klamotten schliefen, in einem Wust verdorbener Gedanken und verlorener Tage. Die sich mit Plastiktüten und Müllsäcken zudeckten, weil sie nichts anderes als das waren; Teil des Inventars, Hintergrundfiguren einer Katastrophe. Müllkinder. Restposten.
    Zu Anfang hatte die Frau, die sich ihre Mutter nannte (und sie war ihre Mutter, denn die Züge ihres Gesichts drückten sich mit jedem weiteren Tag aus den Gesichtern ihrer Kinder; jeglicher Gedanke daran, dass sie vielleicht von einer verrückten Frau bei ihrer Geburt ihrer leiblichen Mutter gestohlen worden sein könnten, erübrigte sich beim Anblick im Spiegel), sie zumindest noch gefüttert; eine mechanische Notstandsversorgung aus abgepackter Wurst, ungeschnittenem Brot (sie versteckte das Besteck vor ihnen, als fürchtete sie die spitzen Zinken der Gabel, die scharfe Schneide des Messers in ihren Händen, denn was hätte man nicht alles damit anstellen können …), aus dem sie wie Wölfe aus einem Riss große Brocken brachen, dazu Limonade, literweise; wie gesagt, zu Anfang. Kein Obst, kein Gemüse. Keine warme Mahlzeit. Wie peinigend war der Geruch frisch zubereiteten Essens, der manchmal aus den Nachbarwohnungen durchs Fenster zog, wenn es denn einmal für kurze Zeit offen stand, ihre Nasen reizte und ihre leeren Mägen terrorisierte. Zum Einkaufen wurden sie nicht mitgenommen. In die Schule gingen sie Hand in Hand, voller Angst, weil die Welt da draußen laut und ohrenbetäubend und überwältigend groß auf sie eindrang, weil sie den Rest der Zeit im Schweigen verbrachten. Weil jeder Laut, jedes Wort, selbst geflüstert, die Frau mit den wirren Haaren und dem wirren Blick, der unheilvoll flackerte und immer auf der Suche nach etwas schien, was gar nicht existierte außer in dem Nebel in ihrem Kopf, in Rage versetzte. Dann bewegten sich ihre Hände, schneller als ein Falke vom Himmel, stieß in ihre Gesichter hinein. Weil das mit der Zeit zu auffällig wurde, schlug sie später auf ihre Bäuche und Rücken ein. In der Schule blickten die Lehrer betreten zur Seite,wenn sie die Ausreden hörten, von denen sie wussten, dass es Ausreden waren. Nicht, dass es ihnen egal war, sie waren nur zu träge und zu feige, um sich zu kümmern. Es gab ja schließlich noch andere Kontrollorgane. Die sahen allerdings immer in die jeweils falsche Richtung.
    »So zu leben ist unmöglich«, sagte ihre Mutter manchmal, wenn der Nebel sich lichtete, »wer würde so etwas wie hier tatsächlich glauben? Aber genauso ist es, genauso, mitten unter ihnen allen.« Den Zustand zu ändern war ihr unmöglich – sie hätte sich selbst ändern müssen, wozu sie keine Lust hatte. Die Kinder … ja, die Kinder waren nun einmal da, sie waren aus ihrem Körper geflutscht, nass und blutbeschmiert und mit den eingedellten Gesichtern alter Menschen, vor denen sie sich schon von klein auf gefürchtet hatte. Ihre Finger zwangen sich dazu, ihre kleinen Köpfe zu streicheln (erst Lydias und dann später Stefans), aber in ihr selbst rührte sich kein Gefühl von Nähe oder Zuneigung.
    Ihre Väter, verschieden und doch gleich beschissene Kerle, die sich schon aus dem Desaster ihres Lebens verabschiedeten, als ihre triefenden Schwänze noch in ihrem Loch steckten, blieben auch nur weitere Leerstellen in einem leeren Bild, hinterließen nicht mehr als Spermakleckse auf dem sich auflösenden Porträt einer taumelnden Frau.
    Ihre Mutter kannte jeden Ausdruck für Hass und keinen für Liebe.
    Liebe? Was war denn das für ein Wort? Sicher, sie war umzingelt davon … in Zeitschriften, TV-Serien und in Schlagern, aber was genau bedeutete dieses Wort eigentlich?
    Es ergab letztendlich wie alles andere für sie auch keinen rechten Sinn.
    »Sie hätte uns abtreiben können. Sollen. Müssen. Wollen. Sie tat es nicht, ich weiß nicht, warum. Vielleicht waren wir ihr wichtig – nicht als ihre Kinder, nicht als etwas Beschützensund Liebenswertes, sondern eher als ein Bestandteil ihres Körpers,als etwas, worauf sie ihren Zorn, ihre Verrücktheit konzentrieren konnte. Sie zerfiel vor

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