Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
sie ihm öffnete und sagte: »Ich habe Sie erwartet«, war alles entschieden, aber es war ihm unmöglich zu sagen, warum und wieso, nur dass er das Gefühl hatte, angekommen zu sein, was auch immer das bedeutete.
Sie bot ihm einen Kaffee an und sagte: »Aber Sie kochen ihn«, und das brach die dünne Schicht Eis zwischen ihnen; was darunter lag würde sich zeigen. Er ging in die Küche und hantierte herum und schaffte es, den Kaffee nicht zu verpfuschen, und sie applaudierte und lächelte dabei ein warmes, tiefes Lächeln, und es war einfach … wow.
Sie holte Becher aus dem Schrank und rückte dabei ganz nahe an ihn heran. Sie roch gut, hatte Parfüm aufgetragen. Für ihn etwa? Komm schon, nimm dich nicht so wichtig, dachte er, das ist lächerlich. Oder nicht? Denn sobald er wieder in ihrer Nähe war, fühlte er sich wie unter einem Bann. Er verstand nicht, was mit ihm geschah, aber es schien gut zu sein.
Lydia sagte: »Ich nehme an, Sie haben sich ein wenig über mich und meine Familie erkundigt.«
Er war überrumpelt und sagte nur: »Ja.«
»Sie hätten mich auch direkt fragen können.«
»Deswegen bin ich hier.« (Das war der Bulle in ihm. Abraham aber dachte: Tatsächlich bin ich wegen dir hier.)
Sie setzten sich wie beim ersten Mal ins Wohnzimmer. Er nahm einen Schluck vom Kaffee, ging in Ordnung, sie nickte, fand es ebenfalls, dann setzte er mit flatterndem Herzen an, aber sie kam ihm zuvor und begann von sich aus zu erzählen, und zumindest den Anfang hatte sie vorbereitet, tastete sich behutsam durch die verschlungenen, verdrehten Korridore ihrer Erinnerung. Die Jahre danach, die sie ummantelt hatten, brachen splitternd von ihr ab, und gemeinsam entdeckten sie das kleine Mädchen, das versuchte, in der Hölle zu überleben.
»Die Kindheit ist ein Zug, von dem wir unser Leben lang nicht abspringen. Was Stefan und mich anging – wir waren von Anfang an auf einem toten Gleis unterwegs. Als Stefan endlich der Absprung gelang, schlug er hart auf, sehr hart. Der Sturz mag seinen Körper zerschmettert haben, aber er war schon lange vorher zerbrochen. Sehr viel später habe ich herausgefunden, dass die Person, die sich als meine Mutter bezeichnete, an einer bipolaren Störung litt, manisch-depressiv war, all das, worüber man heute offen redet und diskutiert. Ich weiß das, weil ich, wie Sie wahrscheinlich inzwischen wissen, selbst diese Schiene gefahren bin und einige Zeit in der Psychiatrie verbringen musste. Es war so, als hätte diese Frau mich mit ihrem Wahnsinn angesteckt – mit dieser irrsinnigen Art zu leben, der Auslöschung entgegen. Wahrscheinlich steckt es in den Genen – das sagt man doch so, oder? Jedenfalls wurde mir eines in der Klapse klar – ich würde keine Kinder in die Welt setzen, nein danke, deswegen sind mir eine Menge Männer von Bord gegangen, na ja, kein Wunder bei einem sinkenden Schiff.«
»Ihr Bruder hat aber eine Familie gegründet.«
»Ja, hat er. Warum? Keine Ahnung. Vielleicht war es das, was er brauchte, um sich zu stabilisieren. Ich habe ihn nie gefragt, und jetzt kann ich’s nicht mehr.«
»Bedauern Sie das?«
»Ja. Nein. Stefan und ich … unsere Beziehung war so kaputt wie unsere Kindheit und Jugend. Was uns zusammenschweißte, um die ›Wohltaten‹ unserer Mutter zu überleben, trennte uns, nachdem wir sie los waren. Plötzlich entdeckten wir, dass wir nichts anderes als schlingernde, nicht festgezurrte Kanonen auf einem Schiffsdeck waren, dazu bestimmt, so viel Chaos und Zerstörung wie möglich anzurichten – in unserem Leben und im Leben der anderen. Das ging eine ganze Weile so … es brachte mich dazu, die ganze Welt zu hassen, und Stefan, sich selbst zu hassen … er versuchte damals zweimal sich umzubringen.«
»Das haben Sie vorher nicht erwähnt.«
»Ich habe vieles nicht erwähnt, dafür bekommen Sie jetzt die volle Ladung ab.«
Abraham sagte: »Vielleicht ist es doch keine gute Idee, das alles wieder auszugraben. Es muss hart gewesen sein, die Vergangenheit zuzuschütten.«
Lydia nickte. »Ich musste immer hart an mir arbeiten. Ich lief im Gegensatz zu meinem Bruder vor nichts davon, sondern ging mitten durch.«
Je mehr sie ihm nun enthüllte, desto präziser wurden die Bilder in seinem Kopf, die er sich von ihr machte. Auch von Margot Beenhakker, einer schwergestörten Frau Ende zwanzig, die zwei Kinder in eine Welt setzte, von der sie sich bereits immer mehr löste und die sie zunehmend, wie der vergebliche Blick durch eine dicke
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