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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cyrus Darbandi
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unseren Augen, jeden Tag, und es gelang ihr immer weniger, sich so zusammenzusetzen, um damit durchzukommen. Natürlich stank die Wohnung, aber wir waren daran gewöhnt. Die Nachbarn scheinbar auch. Sie sahen uns zumeist nur verächtlich an – wie eiskalt und besinnungslos manche Menschen in ihrem Desinteresse bloß sind.«
    Lydia stockte. Abraham hatte das Bedürfnis, ihre Hand zu nehmen und zu halten, so wie bei seinem ersten Besuch, als sie sich selbst verletzte, um sich an diesen alten Schmerz zu erinnern.
    »Da war niemand, der uns hätte helfen können oder wollen. Da waren nur wir beide …«
    »Wie lange ging das so?«, fragte Abraham.
    »Wie immer: viel zu lange. Aber wir hielten durch, wir mussten ja. Wir dachten, die Welt ist nun einmal so. Das war Unsinn, und ich wusste es damals schon, weil wir ja durchaus sahen, dass andere anders lebten. Da unser Leben ein Ausnahmezustand war, ein Katastrophengebiet. Jetzt überlegen Sie, warum ich niemandem etwas von den Verhältnissen erzählt habe? Ja, ich wollte es, aber ich konnte nicht.«
    »Weil sie es Ihnen verbot.«
    »Das wäre zu einfach gewesen. Was hätte sie denn machen sollen? In die Schule mussten wir, weil das Jugendamt sonst sofort vor der Tür gestanden hätte. Sie besaß subtilere Methoden.«
    Was war schlimmer? Wenn sie mit ihnen schrie oder wenn sie mit ihnen flüsterte? Wenn sich ihre Stimme senkte, so als käme sie aus einem dunklen Kellerraum, dann spürten beide Kinder einen Grad der Bedrohung, der ihre Körper regelrecht versteifte. Dann nahm sie ihre Gesichter in beide Hände und drückte so hart zu, dass ihre Knochen noch Stunden danach schmerzten. Ihre Drohungen waren vielfältig, ein Sammelsurium übelster Andeutungen, in einer simplen, aber wirkungsvollenSprache, die sie alle beide verstanden. Sie kämen an Orte, an denen böse Menschen mit ihnen böse Dinge täten. Weil sie ja dann nicht mehr bei ihnen wäre, um sie zu beschützen.
    (»Ihr glaubt, ich bin schlimm, nur weil ihr mich manchmal wütend macht? Ich bin nichts gegen das, was auf euch wartet, von dem Tag an, an dem ihr hier aus der Tür geht.«)
    »Es zeigte Wirkung«, sagte Lydia, »sie konnte, wenn sie wollte, eine sehr gerissene Frau sein. Angst ist eine mächtige Waffe, vor allem wenn man selbst noch ein Kind ist.« Sie stockte erneut und sammelte sich, sammelte Atem und stieg in den Keller ihrer Erinnerung, um sich dem folgenden Schrecken auszusetzen; sie hatte sich ihm jahrzehntelang verweigert, bis ihr Bruder plötzlich wieder in ihrem Leben auftauchte und sie daran erinnerte, mit seinem Körper, seinen uralten Augen, den Spiegelscherben, zu denen sein Geist zerbrochen war. Ihr langes Schweigen wurde noch durchdringender durch die Stille auf den Straßen.
    »Und dann begann das andere.«
    Lydia stand auf und ging im Wohnzimmer auf und ab, als würde sie vor einem Publikum dozieren, tatsächlich aber sprach sie jetzt vor allem zu sich selbst. Abraham saß am Rande, war am Rande, traute sich nicht ins Zentrum zu ihr vor, weil er nicht wusste, ob es dort einen Platz für ihn gab.
    »Das Allerschlimmste.«
    Abraham fragte: »Was war das Allerschlimmste?«
    Lydias Angespanntheit zog jegliche Energie aus ihrem Körper und formte sie zu einem Geschoss, zu einem kinetischen Pfeil der Zeit, den sie durch die Jahre zurück abfeuerte. Sie holte tief Luft, und ihr Blick verdunkelte sich für einen Moment so sehr, dass Abraham Angst um sie bekam und das alles hier beenden wollte. Was sie nicht gewollt hätte. Alles, was sie ihm, einem anderen Menschen, erzählte, so begriff er, war eine Premiere. Und es gab für sie beide kein Zurück mehr.
    »Sie missbrauchte Stefan.«
    Das Mädchen fror, und ihr Bauch tat weh. Sie schreckte aus dem Schlaf hoch und sah, dass Stefan nicht neben ihr lag wie sonst. Sie tastete sich im Dunkeln zur Toilette, einem weiteren Chaosraum, die Wanne voll mit schmutziger Wäsche und dreckigem Geschirr, als sie die Geräusche hörte. Aus dem Schlafzimmer. Hinter der abgeschlossenen Tür. Laute. Flüstern. Weinen. Stöhnen. Dinge, für die es keine Sprache gab und wenn, dann hätte man diese verbrennen müssen.
    »Ich weiß nicht, ob es das erste Mal war oder ob es schon länger ging. Stefan kam zurück wie jemand, der gerade aus einer Narkose erwacht. Er legte sich hin. Ich spürte, wie er am ganzen Leib zitterte. Ich wollte, dass er sich an mich kuschelt, weil wir das oft taten. Er stieß mich fast panisch weg. Ich fragte ihn, was los sei, aber natürlich gab

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