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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cyrus Darbandi
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er keine Antwort. Also fragte ich sie. Ich fragte, was sie getan hatte. Sie schlug mir so heftig ins Gesicht, dass es mich gegen die Wand warf. Ich war ein Kind, aber ich war nicht dumm. Bald wusste ich, was sie mit ihm machte.«
    »Wie oft geschah das?«
    »Viel zu oft. Nicht jede Nacht, denn es gab auch noch Männer. Ja, Männer … aber was für welche. Diese Typen waren der Bodensatz … na ja, keiner von ihnen besaß so etwas wie eine bürgerliche Biografie. Sie nahmen das, was sie bekamen, und das war sie. Sie kamen ohnehin nur zum Ficken und Saufen. Kaputte Kerle, aber selbst unter denen gab es genug, die sich vor der Wohnung ekelten, vor dem Dreck, dem Gestank … und mit der Zeit kamen sie immer seltener. Mit einer Irren zu ficken verschaffte ihnen irgendwann keinen Kick mehr. Ab und an brachte einer von ihnen uns sogar Schokolade mit … oder ein Stück Seife, aber es bestand nie die Gefahr, dass sie zu den Behörden gingen. Sie wissen, was man über Missbrauch sagt … es geht nicht so sehr um Sex, sondern darum, über den anderen Macht auszuüben. Ihn sich einzuverleiben, seinen Körper, seinen Geist. Ihn zu demütigen, ihn zu besitzen.«
    Abraham dachte an Krawczyks Brief. Dachte daran, dass Krawczyk und Margot Beenhakker gut zusammengepasst hätten. Er fühlte sich beklommen und matt – nicht so sehr von dem, was er hörte (denn solche Dinge hörte er beileibe nicht das erste Mal), sondern weil er sich zu Lydia hingezogen fühlte.
    Er fragte: »Hat Ihre Mutter sich jemals an Ihnen vergangen?«
    »Nein. Nicht auf diese Weise.«
    Er stand auf und folgte ihr ans Fenster. Nicht zu nahe – nicht so, dass er sie mit seiner Gegenwart erdrückte.
    Lydia sagte: »Es gab nicht viel, was ich tun konnte … das habe ich mir irgendwann so zurechtgelegt wie einen Stapel vermeintlich sauberer Wäsche.«
    »Sie waren ein Kind. Sie haben getan, was Sie konnten …«
    »Er war mein Bruder. Ich hätte ihn besser beschützen müssen. Aber als es darauf ankam, habe ich versagt. Und danach war es zu spät … war alles zu spät.«
    Abraham fehlten die Worte. Er sah wieder, wie Robert ihn davon abhielt, ins Badezimmer zu stürzen, um ihre Mutter in der Wanne liegen zu sehen. Wie er sich in seinem starken Griff hin und her warf. Aber Robert ließ ihn nicht los. Robert hielt ihn fest, und Abraham klammerte sich an den Felsen, als sich der Boden unter ihm auftat. Er berührte Lydias Schulter. Es geschah einfach. Er machte sich auf eine Abfuhr bereit. Auf eine negative, wütende Reaktion. Er hätte es verstanden. Er wäre gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Er glaubte nicht mehr, dass Stefan Phelps nach Berlin zurückgekehrt war, um seine Mutter zu töten, sondern dass er zurückgekehrt war, um hier zu sterben. Bei dem Menschen, der ihn vernichtet hatte. Bei dem Menschen, der ihn liebte.
    Lydia schloss die Augen und drückte ihre Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest. So standen sie eine Zeitlang zusammen, beinahe zu einer Gestalt verschmolzen.
    »Sie ging weg. Das war gut für uns. Wir waren alleine, ohne sie. Sie schloss die Tür ab, nahm den Schlüssel mit. Sie blieb stundenlang weg. Dann ganze Tage. Es waren Sommerferien. Niemand vermisste uns. Wir ernährten uns von abgelaufenen Konserven. Schlammbeißer, das waren wir. Dreckfresser. Stefan bekam Fieber. Ich machte ihm Wadenwickel. Es gab keinen Telefonanschluss, der war schon lange abgestellt. Stefan krampfte. Etwas in seinem Kopf funktionierte nicht. Der ganze Müll, der ganze Schmutz. Parasiten fraßen sich durch unsere Körper. Einmal huschte eine Ratte über mein Gesicht, ich schlief nur noch mit offenen Augen. Endlich kam sie zurück. Betrunken, wütend. Mitten in der Nacht. Stefan ging es schlecht, er musste ins Krankenhaus. Doch stattdessen schleppte sie ihn ins Schlafzimmer. Ich schrie sie an … und dann griff ich sie an … ich hatte eine Gabel versteckt. Ich zielte auf ihre Augen. Ich verfehlte sie und durchbohrte ihre Wange. Dann weiß ich nichts mehr. Ich erwachte im Dunkeln. Sie hatte mich an die kaputte Heizung gefesselt. Sie sagte: ›Wenn ich zurückkomme, bist du längst verschimmelt.‹ Sie hatte mich mit einem Eisenrohr verprügelt, ich hatte zwei Rippen gebrochen, den kleinen Finger meiner linken Hand, ein Auge war zugeschwollen. Ich machte mich bereit, um zu sterben. Ich hatte … seltsam, ich hatte keine Angst. Ich war nur traurig. Ich hätte so gerne im Sommer im Gras gelegen. Gelauscht,

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