Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
wie die Erde brummt … dieses Geräusch wie aus einem Mutterleib beruhigte mich, ich stellte mir dieses Brummen, dieses Grollen vor. Ich wollte einfach einschlafen.«
Lydia sah ihn an, die Augen leicht glasig. Er berührte ihr Gesicht und zeichnete seine Konturen mit den Fingern nach.
»Psst«, machte er.
»Aber nein«, sagte sie, »nein, es geht schon, es ist doch vorbei.«
Nun, nichts war vorbei, wie sie ihm eindrucksvoll bestätigte.
Das Mädchen dämmerte dahin. Durst, quälender Durst. DerHunger lag ihr wie ein Sack Steine im Bauch. Ihre Kehle war wund, sie hustete Glasscherben. Schmerzen. In der Seite. Ihr Finger pochte. Ein Auge hatte sich schon geschlossen. Vor dem anderen flimmerte es in der Dunkelheit. Etwas roch. Wie Müll, den man in Brand gesteckt hat. Ein kleines Feuerchen täte mir gut, dachte das Mädchen, denn ihr war schon lange sehr kalt. Nur dieser Rauch, der wie ein Geist über den Boden kroch, störte. Er nahm ihr die Luft zum Atmen. Andererseits: Da, wo sie hinging, war so eine Banalität wie zu atmen wohl nicht mehr nötig. Irgendwo in der Finsternis und im Rauch wartete der Tod, und er rückte mit jeder Minute näher. Sein kalkweißes, verzerrtes Gesicht. Seine kleinen grauen Zähne, die sich in das Seil verbissen, mit dem sie gefesselt war.
»Stefan blutete aus dem Mund, als er fertig war. Er brach bewusstlos zusammen und wachte nicht auf, egal, wie stark ich ihn schüttelte. Er hatte das Schlafzimmer in Brand gesteckt – weiß Gott, wie, er hat es mir nie erzählt. Durch den ganzen Abfall, mit dem die Wohnung vollgestopft war, breiteten sich die Flammen schnell aus. Ich hob Stefan auf und trug ihn zum Fenster. Wäre ich mit ihm zur Wohnungstür geeilt, dann wären wir dort gestorben. Mutter hatte sie wirklich doppelt und dreifach abgeschlossen. Ich nahm eine Vase und schlug die Scheibe ein. Wir wohnten im zweiten Stock, und unter uns war Asphalt. Ich stieg aufs Fensterbrett, und das zerschlagene Glas schlitzte mir das Bein auf. Ich schrie. Leute kamen aus den anderen Häusern. Ich warf meinen Bruder in ihre Arme.«
Lydia seufzte und sagte: »Jetzt brauche ich eine Zigarette.«
Abraham ebenfalls. Die Nähe zwischen ihnen zog sich ein wenig zurück, so wie das Meer vom Strand, das den Blick freigab auf das angeschwemmte Strandgut, und genauso fühlten sie sich, jeder auf seine Weise gezeichnet von den Dingen, die ihnen vor langer Zeit zugestoßen waren.
Sie rauchten und erholten sich beide.
Abraham fragte: »Was geschah danach?«
»Wir kamen ins Heim, wohin auch sonst. Der Staat übernahm unsere Fürsorge. Er fütterte uns, besorgte uns ein warmes Bett, wusch uns, ließ uns regelmäßig zur Schule gehen – zwei gehorsame kleine Menschenkinder, abgestumpft, kaputt. Dann steckten sie uns in Pflegefamilien. Wir erwischten wirklich nette Leute, aber wir waren getrennt voneinander untergebracht, und das ging nicht gut. Außerdem waren wir immun gegen jede Art von Nähe, wir waren wie Hunde, die nach allem schnappten, was sich in die Reichweite ihrer Schnauzen wagte. Das torpediert selbst die besten Absichten. Wir erschöpften, jeder mit seinen eigenen Mitteln, unsere jeweiligen Pflegefamilien.«
Lydia zündete sich eine weitere Zigarette an.
»Ich schlief mit meinem … na ja, Pro-forma-Bruder. Da war ich gerade fünfzehn und er ganze siebzehn. Armer Kerl, er war in mich verliebt und heillos überfordert. Ich wollte nur raus aus dieser mich behaglich erstickenden Friede-Freude-Eierkuchen-Leibeigenschaft. Wahrscheinlich hatte ich mich auf eine kranke Art und Weise an das zerstörerische Chaos in meinem Leben gewöhnt. Also provozierte ich meinen Rausschmiss. Ich hätte auch mit meinem Pflegevater gebumst, um das zu erreichen … nicht dass er es je versucht hätte, es waren gute Menschen, die das Pech hatten, ein psychotisches Wrack in ihre Obhut zu bekommen.«
Abraham fiel auf, dass ihre Stimme nicht mehr so zitterte wie bei ihrer Erinnerung an Stefans Missbrauch. Von sich selbst sprach sie so abgeklärt und distanziert wie von einer anderen – und er fragte sich, wie viel von dieser anderen Lydia noch in ihr war.
»Ich benahm mich wie eine kleine Terroristin. Es gefiel mir. Ich war auf einem Rachefeldzug und mein Ziel war einfach alles und jeder. Hass ist ein ebenso guter Brennstoff wie Liebe, und ich brannte. Dinge anzuzünden wurde mein Hobby, abgesehen davon, mich schlecht zu benehmen.« Sie lachte seltsam blechern.»Ich meine damit, meinen Körper für einen Joint und ein
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