Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
paar Flaschen Bier zu verschleudern.« Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Enttäuscht Sie das? Ich schätze, ich hatte einfach eine Menge Scheiße in mir, die rauswollte. Das sah man natürlich anders, also wurde ich weggeschlossen. Therapiert … ja, was man so Therapie nennt. Ich erzählte irgendetwas. ich hatte von meiner Mutter gelernt zu lügen, ohne dabei rot zu werden.«
»Ich glaube, Sie hatten alles Recht der Welt dazu, sich schlecht zu fühlen«, sagte Abraham. Es klang nicht überzeugend.
»Nein, hatte ich nicht, es war mir nur egal. Ich bin auf meiner Odyssee durch die diversen Institutionen genug anderen Menschen begegnet, die Ähnliches durchgemacht haben. Viele von ihnen haben sich von den Schrecken ihrer Kindheit erholt. Weil sie stark waren, weil sie gehärtet wurden wie bester Stahl. Nicht jeder zerbricht; nicht jeder führt das fort, was ihm vorgelebt wurde. Man kann wählen, wir wählen, was wir tun, oder nicht? War es nicht auch so bei Ihnen?«
»Was meinen Sie?«
»Ich habe Sie gegoogelt. Hauptkommissar in der Mordkommission Berlin. Ich dachte, mich an den Namen zu erinnern … Abraham, Frank Abraham … Karl Abraham. Der Sommer 1982, die Fußballweltmeisterschaft in Spanien, Christian Klar wird verhaftet, dies und das, und dann: Dreifachmörder geschnappt. Karl Abraham, der Berliner Blaubart. Im Internet haben sie Zugriff auf jede Zeitungsausgabe, die mal produziert wurde. Es waren nur ein paar Klicks nötig.«
Als sie sah, wie er zusammenzuckte, griff sie schnell nach seiner Hand.
»Ich war nur neugierig … ich wollte Ihnen nicht wehtun.«
Zu spät, dachte er, und genau das las sie auch in seinem Gesicht.
»Es war … ich war gedankenlos. Dumm. Ich schätze, ich habe vergessen, wie das ist, wenn man Teile seines Lebens verdrängt und wegsperrt.«
»Ich war noch ein Kind«, sagte Abraham. »Ich verstand gar nichts. Ich versuche es bis heute zu verstehen.«
»Manche Dinge lassen sich nicht verstehen. Erklären vielleicht … aber nicht verstehen. Ich spreche schließlich aus Erfahrung.«
»Und das zum ersten Mal so offen?«
»Ja«, sagte sie.
»Wieso mit mir? Weil ich Sie gefragt habe?«
»Nein. Gefragt haben mich viele. Geantwortet habe ich keinem.«
Sie berührte sein Gesicht. »Wer hat Sie jemals gefragt? Wem haben Sie Ihre Geschichte erzählt?«
Keinem, dachte er. Nie zur Gänze. Nie mit all den hässlichen Details, die er im Laufe der Jahre herausgefunden hatte. Weder Erin noch den Kindern. Selbst Levy, der so viel mehr als die anderen wusste, hatte er nicht alles erzählt.
Über seine Mutter zum Beispiel.
Oder über Lohmanns letzten Brief an ihn.
Lohmanns Brief traf per Post in Abrahams Büro ein.
Abraham bearbeitete gerade den Fall eines Mannes, der unter Drogeneinfluss und aus Eifersucht seine Exfreundin verschleppt und bei lebendigem Leib verbrannt hatte. Es war nicht leicht für ihn, diesen Brief zu öffnen. Der Poststempel offenbarte, dass Lohmann ihn noch am Tag seines Todes abgeschickt hatte – die letzte Handlung, bevor er sich mit seiner Waffe in das schäbige Hotelzimmer zurückzog.
Für so einen langen Abschied, dachte Abraham, war es ein kurzer Brief.
»Ich weiß, Du wirst mich dafür hassen und Du bist zu jung, um das zu verstehen, aber glaub mir: Es ist gut so. In anderen Zeiten als diesen sind Männer wie ich sehr viel früher gestorben, in ihren Stiefeln, wie man so sagt, in Erfüllung ihrer Pflicht. Ich erinnere michdaran, wie ein Freund meines Vaters meiner Mutter und mir erzählte, wie er gestorben ist, 1943 im Kursker Frontbogen, er verbrannte in seinem Panzer, und es dauerte lange. Meine Mutter wollte die ganze grausame Wahrheit wissen. Ungewissheit ist etwas für Feiglinge. Ich schätze, mein alter Herr hätte bestimmt einer Kugel den Vorzug gegenüber einem Tod gegeben, der seinen Körper mit Stahl zusammenschmolz. Ich könnte genauso gut in meinem alten Sessel sitzen und der Zeit beim Sterben zusehen, so wie alle anderen, aber Du weißt, ich bin die Dinge gerne frontal und zügig angegangen. An dem Tag meiner Pensionierung begann ich bereits zu gehen, jetzt tue ich nichts anderes, als meine Schritte zu beschleunigen. Ich habe weder Dir noch Deinem Bruder jemals die ganze Wahrheit über das, was Deine Mutter anging, offenbart. Ich hielt das für gerechtfertigt; Ihr wart auch so schon genug angeschlagen. Und später, als wir beide zusammenarbeiteten, hast Du mich nie wirklich danach gefragt, und ich hielt meinen Mund. Das ist jetzt anders; jetzt
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