Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
sie damit auch Zeit gehabt hätte, an das zu denken, was bis jetzt geschehen war, die Berührungen und feuchten ekelhaften Küsse des Mannes, den sie betäubt hatte, den sie dann ausgeraubt und gedemütigt zurückgelassen hatten.
Und wie allzu leicht es ihr gefallen war, ihre Rolle zu spielen.
Polly schaltete die Taschenlampe ein. Dann probierte sie den Schlüsselbund aus, der vierte Schlüssel öffnete ihr die Türe. Als Erstes schlug ihr ein furchtbarer Gestank entgegen. Es roch unverkennbar nach Scheiße. Sie musste würgen und schluckte hastig den aufkommenden Brechreiz hinunter. Das Licht schnitt dicke Scheiben Dunkelheit aus einem finsteren Leib. O Gott, dachte sie, wer lebt denn hier bloß so, in Finsternis und Exkrementen?Eine hilflose und drangsalierte Frau zum Beispiel, gab sie sich selbst die Antwort. Wenn dem so war, dann war diese Frau in einem verheerenden Zustand und den Machenschaften Becks ausgeliefert. Sie wollte nicht, musste aber die Tür hinter sich wieder schließen. Sie hoffte, dass Mevissen und Beck lange genug wegblieben. Und wenn nicht? Was, wenn sie zurückkamen? Oder noch schlimmer: nur Beck, aus welchen Gründen auch immer. Was wird er dazu sagen, dass du dich hier oben rumtreibst? Wird er überhaupt etwas sagen oder dich nur anstarren mit diesen entsetzlichen Augen … mit seinem hungrigen Wolfsblick.
Dieser Blick sagte mehr als tausend Worte, er sagte: ICH WILL DICH, UND ICH BEKOMME DICH.
Obwohl ihr übel war, sie die Hand vor den Mund hielt, schwankte und sich fürchtete, suchte sie jedes Zimmer auf, fand aber niemanden. Hatte sie sich vielleicht doch getäuscht? Etwas in ihr verweigerte sich jedem klaren Gedanken – zum Beispiel die Wohnung wieder zu verlassen. Sie tappte und trippelte weiter durch das Dunkel wie ein Soldat, der einen Befehl ausführt, und folgte dabei dem Lichtstrahl, der immer wieder Dinge aus der Dunkelheit für den Moment seines Verweilens hervorhob: zerbrochenes Geschirr, zerschlissene Vorhänge, der mit Unrat, Kot und Dreck bedeckte Boden. Auf den Fensterbänken und lose auf dem Boden lagen Teller, auf denen Scheiße angehäuft war, Haufen um Haufen.
Der Lichtstrahl ihrer Lampe preschte weiter vor, und sie entdeckte Gesichter, die auf die blanke Wand gekritzelt waren, Frauengesichter, ungelenk wie Kinderzeichnungen einerseits und dennoch auf eine unangenehme Weise verstörend detailliert, panisch, geil, bizarr. Sie konnte ihren Blick nicht davon abwenden, und je länger sie sie ansah, desto stärker quoll ein Gedanke wie frische Hefe in ihr auf: Waren das hier die toten Gesichter von einstmals lebenden Frauen? Sie zählte ein halbes Dutzend, jedes besaß zwar seine eigene Individualität, abergleichzeitig immer denselben fremdartigen, TOTEN Ausdruck. Stammten die Zeichnungen von Beck oder dem Vormieter, der Vormieterin? Und wo war die Frau, die sie vor ein paar Nächten gehört hatte? Ein Wandschrank erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte ihn zu öffnen, zwecklos, er war abgesperrt. Vielleicht … sie suchte den Schlüsselbund ab, bis sie den passenden fand, tatsächlich, klein und gemein, als hätte er nur auf sie gewartet.
Knarzend öffneten sich seine Türen.
Er war leer – bis auf einen kleinen Stapel Kassetten mitsamt einem Aufnahmegerät. Sie waren in dreckige Unterwäsche eingewickelt, die stammte eindeutig von einem Mann, und sie war sich sicher, dass sie zu Beck gehörte. Ihr grauste es davor, auch nur hineinzugreifen, geschweige denn, dort etwas anzufassen. Danach muss ich meine Finger waschen, bis sie bluten, dachte sie.
Und dann geschah etwas mit ihr, besser gesagt, es geschah IN ihr, eine Stimme, die nicht die ihre war, drängte sich wie ein Fremder, der zu dir in den Zug steigt, in dein Abteil.
Das solltest du lassen, sagte DIE STIMME .
Was?
Alles einfach. Du solltest diesen Ort hier vergessen und gehen, die beiden Männer vergessen und gehen, am besten gleich aus der Türe und dann soweit du kannst, bis du nicht mehr in ihrer Nähe bist, erklärte ihr DIE STIMME.
Warum?
Das weißt du.
Ich weiß nichts, ich weiß gar nichts. Papa? Papa?
Papa, bist du das?
So unvermittelt, wie sie gekommen war, schlüpfte DIE STIMME wieder aus ihr heraus und ließ sie trist und ratlos zurück. Ihr überaus vernünftiger Ratschlag explodierte ihr aber nicht im Kopf, sondern nur im Bauch, wo sie ihn wie einen kurzen Schmerz einfach ignorierte. Egal, wem DIE STIMME gehörte,ob ihrem Vater oder einem Wahn, einem Geist oder nur dem Flüstern im
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