Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
ebenso wie andere Männer zu gleichen Zeit an anderen Orten der Gefahr aus. Nicht jeder von ihnen trug eine Pistole und einen Ausweis, die einen schraubten gerade den Zünder einer Bombe ab, die anderen verbarrikadierten eine Schule vor dem Ansturm eines entfesselten Mobs, andere wiederum organisierten den Transport von dringend benötigten Medikamenten durch eine Todeszone. Abraham fühlte sich ihnen ebenbürtig und so nahe wie sonst nur seinem eigenen Bruder.
Und sie alle zusammen setzten nicht nur ihre Körper der unmittelbaren Gefahr aus, sondern mehr noch ihr Innerstes, ihr Vertrauen darauf, dass das, was sie taten, gut und richtig war.
Das SEK besaß eine ganze Reihe von »Türöffnern«, sowohl robuster als auch subtiler Natur. Abraham hatte sich einen davon ausgeborgt und kam ohne größere Schwierigkeiten in die Wohnung, die Polly ihm beschrieben hatte. Er zog seine Dienstwaffe, entsicherte sie und folgte ihrem Lauf, den er wie eine Sonde vorschob. In der anderen Hand eine kleine Mag-Lite, weil es in der Wohnung stockdunkel war und der Strom abgestellt. Sein Herz hämmerte auf ihn ein, und in seinem linken Ohr hörte er das gleichmäßige Schnaufen und Stampfen seines Pulsschlags.
Es roch nach Scheiße und Fäulnis.
Die Scheiße war allgegenwärtig, in jedem Raum, den er durchsuchte, die Scheiße hatte sich in die wenigen verbliebenen traurigen Möbelstücke hineingefressen, in die Wände eingegraben, sie trieb ihm den Brechreiz die Kehle hoch. Abraham atmete schließlich nur noch durch die Nase, bis er jedes Zimmer mit der Waffe im Anschlag gesichert hatte. Als Erstes öffneteer die Fenster. Einige waren mit Holzbrettern vernagelt, er trat rein und warf ihre Reste nach draußen in einen zugemüllten Hof. Er sah aus dem Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite mehrere Zivilfahrzeuge mit SEK-Beamten. SEK-Schneiders Stimme meldete sich über das Head-Set: »Wir sehen Sie jetzt. Wie sieht’s da drinnen aus?«
»Wie im Höllenkreis der Scheiße«, sagte Abraham. »Dante würde es gefallen.«
»Dante wer?«
»Schon gut, vergessen Sie’s.«
Durch die geöffneten Fenster strömte eiskalte Luft in die Wohnung und mischte sich mit dem Gestank. Auch Tageslicht drang ein, aber es war nur noch schwach, weil die Dämmerung sich bereits wie ein Lindwurm über die Stadt schlängelte. Auf dem Boden standen verteilt Teller und Schüsseln. Abraham ahnte, was sich in ihnen befand. Dann bemerkte er das Blut. Es glänzte noch relativ frisch auf dem verunreinigten Boden. Viel Blut. Es führte ihn zum Wandschrank, dem einzigen intakten Möbelstück in dem Raum. Der Blutgeruch überlagerte die Scheiße. Abraham dachte: Da drinnen ist ein Toter. Er nahm die Mag-Lite in die linke Hand, hielt die Waffe auf den Schrank gerichtet und öffnete langsam die Türen und … ein Mann fiel ihm entgegen. Er fiel Abraham in die Arme, der ihn reflexhaft auffing, die Lampe verlor, die Waffe ebenfalls. Ein blutiger, nackter, geöffneter Körper. Abraham starrte in ein Gesicht ohne Augen, nur in zwei blutige leere Löcher. Er hörte sich selbst stöhnen, aber genauso gut hätte dieses Geräusch auch aus dem aufgebrochenen Körper des anderen kommen können. Er ließ den Toten zu Boden sinken. Wahrscheinlich handelte es sich um Christian Mevissen, Pollys Freund, der hier auf Beck gewartet hatte, um ihn zur Rede zu stellen.
In seinem Körper steckte ein Springmesser, es war dort von einer unglaublichen Kraft wie ein Pflock regelrecht hineingetrieben worden.
Seine Genitalien waren abgeschnitten.
Abraham hob seine Waffe wieder auf. Das Metall fühlte sich glitschig und besudelt an. Er wischte die Waffe an seinem von Mevissens Blut verschmierten Mantel ab und seine Finger an der Hose.
Aus der unteren Wohnung hörte er Geräusche und erstarrte.
Kleber meldete sich über Funk.
»Alles klar da oben, Boss? Ich hab was gehört. Soll ich kommen?«
»Nein«, sagte Abraham, während er auf den Leichnam sah. Das Mädchen hatte mit ihrer Vorahnung richtig gelegen. Er bedauerte sie schon jetzt. Er sagte: »Wie sieht’s bei dir aus?«
»Alle Zimmer gecheckt, kein Vögelchen zu Hause. Vielleicht kommt er ja doch nicht.«
»Er kommt«, sagte Abraham. Er zwang sich jetzt doch woanders hinzusehen als in die ausgestochenen dunklen Höhlen in Mevissens Gesicht.
Das Miststück war verschwunden, die Stadt hatte ihre Hosen runtergelassen, und Polly hatte sich in die Arschritze des Giganten vergraben. Sich in Luft aufgelöst. Das war
Weitere Kostenlose Bücher