Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
anscheinend im Mittelmaß der Einsamkeit versank, erst recht.
Die kleine Wohnung, in der Robert zurückgeblieben war, machte auf ihn einen deprimierenden Eindruck. Kein Vergleich zu dem Haus, das sein Bruder mit Erin und den Kindern bewohnt hatte. Früher war er gar nicht so selten bei ihnen gewesen und hatte dabei zugesehen, wie liebevoll sie miteinander umgingen. Wenn Frank bei seiner Familie war, war er ein anderer Mensch als in den Momenten, wo er alleine zurückblieb, auf sich selbst geworfen, mit den strudelnden Untiefen seiner Persönlichkeit beschäftigt. Er war froh, dass sein Bruder glücklich war, Halt und Stabilität in einer Welt gefunden hatte, von der er sonst nur das Schlechteste zu sehen bekam. Aber das war jetzt vorbei.
Die Enttäuschung darüber zwang ihn auch wieder, sich mit seiner eigenen Person auseinanderzusetzen.
Niemand, der ihn kannte, und es war ja nicht so, dass er vor seinem Abtauchen kein gesellschaftliches Leben in dieser Stadt gehabt hätte, niemand würde jemals dahinterkommen, was er tat und für wen. Was für Geschäfte er betrieb; dass er Leute bestach, bedrohte, Drogen transportierte, Schwarzgeld, Waffen, Duplikate, Fälschungen; das Verbotene. Das alles vollzog sich unterhalb der Ebene gewöhnlichen Lebens. Er huschte durch dieses Leben wie ein Spuk. Deshalb brauchte er auch keine eigene Wohnung, keinen festen Ort, er befand sich sozusagen permanent im Transitbereich seiner neuen Existenz. Sein Leben bestand nicht aus Farben, nur aus Routine, dem Handwerk des Kuriers, einer scharfen, fast schmerzlichen Wachsamkeit, demsich ständigen Bereithalten, ein Leben mit dem Ohr am Telefon und dem Blick auf die Landkarte gerichtet.
Er war dessen müde. Er war seiner selbst überdrüssig. Er war bereit, aufzuhören. Er wusste, dass sein Ausstieg mit erheblichen Risiken behaftet war. Er dachte an Selina. Sie wusste nichts, sie befand sich noch im Stadium der Unwissenheit, was nichts anderes war als Unschuld. Aber sie hatte ihn verwandelt und nun gab es keinen Weg mehr zurück für ihn.
Keine nächtlichen Lagerhallen mehr.
Kein Blut, keine abgeschlagenen Köpfe. Und keine Lügen mehr.
Robert legte sich in Franks Bett, verschränkte die Arme unter seinem Kopf und dachte: früher war es oft genau andersherum.
Er wartete. Wartete, dass die Zeit verging.
Das Warten machte ihm nichts aus.
Er war eingeschlafen und wachte auf, als sein Handy klingelte.
Hatte sein Bruder schon so schnell wieder Sehnsucht nach ihm?
Er nahm ab.
Nicht Frank war am anderen Ende, sondern Arschawin. Robert schwang sich aus dem Bett und drückte sich an die Wand, als könnte er dort vor den schlechten Neuigkeiten Schutz suchen.
Arschawins Stimme troff vor Verachtung und bitterböser Schadenfreude.
»Sie hat uns alles erzählt, mein Freund, deine kleine Braut. Sehr redselig, die Kleine, wenn man ihr erst mal einen Zigarettenanzünder auf den Oberschenkel drückt.«
Roberts Welt schien zu explodieren. Er hatte sich schon sehr lange auf diesen Punkt zubewegt, und jetzt hatte er ihn erreicht.
Er brüllte: »Was habt ihr gemacht?«
»Wo ist Mikosch?«, rief Arschawin hasserfüllt. »Du hast dichmit ihm getroffen und ihn laufen lassen, du Bastard. Oh, das sieht und hört der Boss gar nicht gerne.«
Robert versuchte sich zu sammeln. Sie hatten Selina. Wut, Hass, Ohnmacht und Angst balgten sich wie streunende Hunde miteinander um sein bisschen Seele. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, und konzentrierte das, was von ihm noch übrig war, in seine Stimme: fest und entschlossen.
»Hör zu«, begann er.
»Leck mich am Arsch, Abraham. Du hörst zu und hör gut zu, denn ansonsten wird diese kleine Nutte so langsam sterben, dass sie ihr eigenes Krepieren minutiös miterlebt. Du bringst uns Mikosch, und zwar gleich. Wie du das machst, ist dein Problem. Schaff seinen Arsch her.«
Und er sagte ihm, wohin.
Obwohl er wusste, dass es sinnlos war, fuhr Robert in die Torstraße und eilte in Selinas Wohnung.
Ihre Tür stand weit offen, im Inneren sah es katastrophal aus. Die liebevoll zusammengetragenen und arrangierten Kunstwerke waren zerstört, die Skulpturen enthauptet, entleibt, die Fotos zerrissen, die Installationen zerbrochen. Ihre Wäsche lag verstreut und zerfetzt auf dem Boden, ihre Bettdecke war zerschnitten.
Großer Gott, dachte er. Nichts an dieser blindwütigen Zerstörung ergab einen Sinn – es sei denn, Arschawin hatte sie angewiesen, sich richtig auszutoben.
Weil er wusste, dass ich es sehen würde,
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