Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
vom Tod eines ihrer Staatsbürger informieren, dachte Abraham. Diplomatische Verwicklungen inklusive.
»Ein Australier kommt nach Berlin, um sich von einem Hochhaus zu stürzen. Ich dachte, die kommen als Backpacker, um hier billig zu wohnen, dem Bier zu frönen und den Rest Europas zu erobern?«, sagte Kleber.
»Was wollte er hier – abgesehen davon, vom Dach zu fallen«, sagte Abraham. Noch war der Mann ein ungeklärter Todesfall.
Kleber ging in die Hocke und fixierte den Leichnam, sagte: »Mann, es ist wirklich nicht mehr viel von ihm übrig.«
Es war schon zu Lebzeiten nicht mehr viel von mir übrig.
Abraham wusste nicht genau, woher ihm dieser Gedanke kam.
Als hätte ihm dies eine Stimme, die sich im Wind verbarg, zugeflüstert. Unwillkürlich sah er sich um. Aber da war nichts,nur eine Handvoll Menschen, die sich im Zentrum des Todes aufhielten und ihrer Arbeit nachgingen. Er spürte eine Berührung, aber nein, es war natürlich nur der Wind. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Toten zu.
Ein Mann in seinem Alter, mit einem mittelmäßigen Gesicht, einem mittelmäßigen Anzug, und was für einem Leben? Denn darin lag die Antwort auf das Warum dieses Sturzes. Hatte man ihn gestoßen, oder war er gesprungen?
Es gab nicht viel Trostloseres als die Geschichte eines Selbstmordes, und Abraham glaubte sie alle zu kennen, all die mitunter banalen, niederschmetternden Details, die er rekonstruierte, nachdem derjenige aus dem Fenster gesprungen war, sich vor den Zug geworfen, ein Seil um den Hals geschlungen oder eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hatte.
Kleber sah sich um.
»Neukölln, Karl-Marx-Platz, keine besonders angenehme Gegend. Hoher Hartz-IV-Anteil. Wohlstandsverlierer, Polizisten sind hier so gerne gesehen wie der Gerichtsvollzieher oder der Sperrkassierer von den Stromwerken. Die Marke genießt hier keinen Respekt.«
Tatsächlich blickte Abraham in die stumpfen, zum Teil abweisenden Gesichter der Schaulustigen, unter anderem Gruppen jugendlicher Herumtreiber sowie Männer und Frauen in der Mitte des Lebens, die schon zu dieser Tageszeit damit beschäftigt waren, ihren alkoholischen Nachschub sicherzustellen. Abraham sah in vielen Augen Resignation, in anderen hingegen eine stumme, aber rasende Wut, ein loderndes Feuer, das nur auf ein Ereignis wartete, das sie als Brandbeschleuniger nutzen konnten. Sie waren müde von Zweifel, müde davon, dass die Welt sich ihnen mit jedem neuen Tag mehr und mehr entzog.
Nein, aus diesen Menschen würden sie ganz sicher nichts herausholen.
Nun, Fragen stellen mussten sie trotzdem.
Norbert Kossack und Carola Gottwald trafen am Tatort ein. Sie gehörten offiziell zu Abrahams Ermittlungsteam. Ihrem Chef begegneten sie manchmal zwischen dem Tatort eines Mordes und der Rechtsmedizin. Sie kommunizierten vor allem mit Kleber. Abraham blieb ihnen fremd, beinahe ein wenig unheimlich. Kleber hingegen kam mit allen aus. Er verteilte die Arbeit.
»Hört euch um! Weist die Kollegen in Blau ein. Das wird eine Menge Laufarbeit, Kinder, klingelt die Bagage hier aus den Betten.«
Abraham streifte derweil Latexhandschuhe über und durchsuchte den Toten noch einmal. Der Sturz aus enormer Höhe hatte alles in ihm zerschlagen. Doch erstaunlicherweise war sein Gesicht relativ unversehrt geblieben, und seine Augen standen halb offen. Da war kein Leben mehr in ihnen, natürlich, und dennoch hatte Abraham das Gefühl, als fixierte der Tote einen Punkt, einen Ort außerhalb der Zeit an.
Als blickte er in eine andere Art Licht, das zu sehen nur den Toten vorbehalten blieb.
Dabei fiel Abraham wieder ein Gedicht von Harold Pinter ein, und er murmelte, unhörbar für die anderen, die ersten Zeilen:
»Tod.
Wo fand man den Toten?
Wer fand den Toten?
War der Tote tot, als man ihn fand?
Wie fand man den Toten?
Wer war der Tote?
Wer war der Vater oder die Tochter
oder der Bruder
oder der Onkel oder die Schwester oder
die Mutter oder der Sohn
des toten und verlassenen Toten?
War er tot, als er verlassen wurde?
War er verlassen?
Wer hatte ihn verlassen?«
Es war nur ein Gedicht, eine künstlerische Anordnung von Worten, aber für Abraham stellte dieser Gesang nichts anderes als den Kern seiner Arbeit dar.
»Sein Hotel liegt in Mitte«, sagte Kleber, »was hat ihn bloß hierher verschlagen?«
»Vielleicht hat er sich auch einfach nur den höchsten Punkt in der Landschaft ausgesucht«, sagte Abraham. Er blickte erneut nach oben. Auf das Dach des Hochhauses.
»Wir
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