Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
oder?«
»Ja, vielleicht.«
»Sie sollten sich mal hören …«
Was soll’s, dachte Robert verärgert. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Mikoschs Nähe zu suchen. Der Mann wurde ihm unangenehm. Er dachte zu viel über seine Situation nach, anstatt sich gründlich die Kante zu geben. Robert lief, je länger er ihm zuhörte, Gefahr, selbst mit dem Denken zu beginnen.
Großer Fehler.
Mikosch sagte: »Ich komme mir vor, wie ein dicht beschriebenes Blatt Papier – ein Haufen winziger Buchstaben. Das ist mein Leben, ein Ameisenstaat Worte auf weißem Hintergrund.«
»Metaphysisch gesehen ist das beeindruckend.«
»Und jemand reißt Streifen von diesem Papier ab.«
Er führte es vor, rutschte dabei vom Hocker, strauchelte, Robert griff zu, stabilisierte ihn, »Ritsch-Ratsch, sehen Sie, immer von oben nach unten. So fühlt sich mein Leben an. Es wird weniger. Ich zerfalle.«
»Das liegt nur an dem guten Zeug hier«, sagte Robert und vernichtete sein Glas. »Das fährt Karussell mit Ihnen.« Aber Mikosch wippte inzwischen verzweifelt mit dem Kopf hin und her. Dann rammte er sich plötzlich unvermittelt die Fingerspitzen wie Messer gegen seine Brust, die sich hob und senkte, als kämpfe das Herz darin einen letzten Kampf.
»Sehen Sie denn nicht, was die aus mir gemacht haben? Was die aus uns gemacht haben.«
»Das haben wir uns schon selbst angetan«, sagte Robert ruhig. Tatsächlich aber zitterte seine Stimme ein wenig dabei. Gott, er hatte eigentlich nur einen heben wollen.
»Sie erzählen öfters Scheiße, oder?«, fragte Mikosch. »Was sagt Ihre Familie denn über so viel Scheiße?«
Er schwankte wie eine staatenlose Fahne im kalten Wind der Geschichte.
»Das geht dich nichts an, Kumpel«, raunte Robert. »Wieso verpisst du dich nicht einfach und lässt mich alleine weitertrinken.«
»Kein Problem. Scheiß drauf. Sie kommen auch noch dahinter.«
»Wohinter?«
Aber Mikosch grunzte nur und torkelte vom Hocker. Diesmal verzichtete Robert darauf, ihn festzuhalten.
»Wie ist er dir vorgekommen?«, fragte Nagy.
»Wie jemand, der kurz vorm Zusammenbruch steht.«
»Der Dummheiten begeht?«
»Vielleicht. Ich bin nicht in den Kopf dieses Kerls hineingekrochen. Hat er denn? Bin ich deswegen hier?«
»Er hat mir Geld gestohlen, Robert. Keine Obligationen, kein virtuelles Spielgeld. Echte Noten.«
Nagy nannte ihm die Summe. Das Geld war dazu bestimmt gewesen, Polizisten und Verwaltungsleute zu schmieren.
»Diese Typen akzeptieren heutzutage einfach keine Überweisungenauf Privatkonten mehr, jetzt, wo alle Steueroasen austrocknen. Es geht doch nichts über die physische Realität von bedrucktem Papier.«
Mikosch hatte das Geld einfach abliefern sollen, Robert hatte solche Aufträge schon selbst durchgeführt.
»Und er ist nicht bei seinen Kontraktpartnern aufgetaucht?«, fragte Nagy.
»Nein.«
»Und ihm ist auch nichts zugestoßen?«
»Bis jetzt nicht.«
»Das ist tatsächlich dumm.«
Was sollte er sonst sagen? Etwas begann jetzt seinen Hals hochzukriechen. Stopfte ihn dabei zu. Angst?
Ja, der pelzige Körper Angst und einen Rattenschwanz an Sorgen hinterher.
»Ich will es wiederhaben.«
Mehr als verständlich.
»Und ihn dazu?«
»Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.«
Das Geld war zweitrangig. Nagy hatte genug davon. Es ging ums Prinzip. Jede Kultur verachtet den Dieb. Im Orient wurde ihnen die Hand abgehackt. Im Wilden Westen machte man mit Pferdedieben kurzen Prozess, sie endeten am Galgen, unter den zufriedenen Mienen der braven Bürger. Nagy würde Mikosch sicher nicht der Justiz überstellen. Das nachzuvollziehen bedurfte keiner allzu großen intellektuellen Anstrengung. Roberts Blick tastete sich verstohlen zu Nagys perfekt manikürten Fingern vor. Den Nägeln. Die Wahrheit darunter. Sauber. Kein Dreck, kein Blut.
Nein, die Bestie fand er auch dort nicht.
»Ich weiß nicht, ob ich dafür besonders gut geeignet bin«, sagte Robert.
»Ich weiß aber, dass du es bist«, sagte Nagy.
»Du hast doch Leute …«
Nagy fächerte Luft beiseite.
»Berlin«, sagte er. »Wir vermuten, dass er sich in Berlin aufhält.« Beobachtete ihn dabei, wartete auf eine Reaktion Roberts. »Ist das ein Problem für dich?«
Berlin.
Robert sagte: »Nein.«
O doch. Wir flüchten. Wir fliehen, lassen alles zurück, die Türen offen, und mit dem Vorsatz, nicht zu unseren alten Geschichten zurückzukehren. Jahrelang haben wir danach mit den Fliehkräften der Erinnerung zu kämpfen, die uns
Weitere Kostenlose Bücher