Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Substanz. Sein Leben plätschertedahin bis auf die Momente, wo er abtauchte wie ein U-Boot, unsichtbar und ebenso tödlich.
Winter in Moskau waren immer eine Sache auf Leben und Tod, es gab genug Obdachlose, die sich nachts unter Brücken und in Hauseingänge legten und dann am nächsten Morgen nicht mehr aufwachten. Der lange, kalte Schlaf. Seltsam verrenkte, geschrumpfte Körper, erstarrtes Fleisch. Einmal hatte Grischa dabei zugesehen, wie man ihre Körper dutzendweise wie gefrorene Rinderhälften auf die offene Ladefläche eines LKW der Miliz geworfen hatte. Die Männer, die das taten, steckten in groben, langen Mänteln, schwere Kappen auf ihren Köpfen, sie packten die Toten bei Armen und Beinen und stapelten sie wie Brennholz, warfen im Anschluss eine Plane über den Haufen. Grischa war nicht der Einzige, der dies mitbekam, aber er war der einzige Passant, der innehielt, während die anderen weitergingen.
Die Männer, Arbeiter des Todes, unterhielten sich über das letzte Spiel von Spartak, über die richtige Zubereitung von Pelmeni, über Frauen, lachten, teilten sich Zigaretten, waren genauso deprimierend alltäglich, wie es der Tod in ihrem Leben war.
Grischa wusste genau, wie sie sich fühlten.
Auf dem Markt kaufte er frisches Obst, in einem kleinen Lebensmittelladen Eier, Milch, Piroggen, Gläser mit eingelegter Roter Bete, Brot, Wodka. Eine Flasche für die Woche. Es war nicht die Menge, die zählte, sondern die Stunde, in der man trank, wenn das Licht die Welt verließ wie ein geschlagenes Regiment. Morgen kehren wir zurück, Jungs. Als ginge man wie selbstverständlich davon aus, dass es einen neuen Morgen gab.
Als hätten wir ein Anrecht darauf, dass es immer für uns weitergeht.
Nun, die Toten wussten es besser.
In seiner Wohnung begrüßten ihn die pockennarbigen Wände, die jedes natürliche Licht verschluckten. Er schaltete den Fernseher ein: eine Gewohnheit. Die Welt erwachte zuckend, kreischend, aus Dioden und Elektronen geboren.
Ihr fahles Bild, ihr falsches Antlitz.
In einer Provinzstadt hatten sich Dutzende von Jugendlichen mit gepanschtem Wodka getötet. Die wenigen Überlebenden waren gerade so davongekommen: für immer erblindet. Die Behörden fahndeten bereits nach den Veranstaltern der illegalen Party, die ihren Todestrank zu Höchstpreisen an die Feiernden verkauft und sich dann aus dem Staub gemacht hatten. Die entsetzten Gesichter der Angehörigen, Männer, die lautstark die Stadtverwaltung beschimpften, im Kontrast dazu das stille Weinen der Frauen, das Grischa viel mehr bewegte als die ohnmächtige Wut der Väter.
Dass es ihn überhaupt bewegte, wunderte ihn.
Flottenmanöver im Schwarzen Meer. Graue stählerne Leiber, die einander umkreisten.
Die besorgniserregende Anzahl verpfuschter Operationen in einem Krankenhaus.
Schwere Unfälle, Razzien mit Todesopfern.
In einer schäbigen Wohnung im Norden der Stadt hatte die Kripo die gekochten Überreste zweier Frauen gefunden.
Ein wegen angeblicher Korruption verhafteter Oligarch war überraschend in seiner Haft verstorben.
Ein an Leukämie erkranktes TV-Sternchen.
Grischa stellte die Einkäufe in die Küche. Der Kühlschrank war ein Monstrum aus den frühen Neunzigern. Sie hatten immer wieder mal über einen neuen gesprochen. Nicht mehr nötig, dachte er.
Larissa.
Er drückte ihren Namen aus seinem Kopf, so als bediene man eine Fernbedienung. Ihrer Gegenwart selbst im Tod hingegen konnte er sich jedoch nicht entledigen.
Fünf Jahre. Fünf Winter, fünf Sommer, die Zeit dazwischen. Tatsache ist: Nichts verblasst, weder Schmerz noch Sehnsucht. Im Gegenteil: Die Erinnerung ist ein Muskel, der mit jedem Gedankenzug stärker wird. Stark wie ein gesundes Herz. Wie seins. Es schlug so kräftig wie zu der Zeit, als er ihr zum ersten Mal begegnete, bei einer Tanzveranstaltung, rührend unbeholfene, ungelenke Jugendliche in einem großen, schlecht geheizten Saal in der Mitte von nirgendwo. Sie hatten nichts als ihren angetrunkenen Mut und ihre verstohlenen Blicke, feuchte Hände trotz der Kälte, Erwartungen.
Larissa.
Lange, dicke blonde Haare. Dünn war sie, schmal, eine Balletttänzerin, anmutig, mit einer stillen Ehrfurcht. An der ist doch nichts dran, maulten seine Freunde, sie bevorzugten größere Kaliber, richtige Weiber; schau nur, Grischa, sie ist eine Feder, im nächsten Sturm verlierst du sie an den Himmel. Es war ihm egal.
Die so quatschten waren auch nicht wirklich seine Freunde – nur Jungs, mit denen er
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