Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
aufgewachsen war. Sie bedeuteten ihm nichts. Er war alleine auf der Welt, bis zu dem Tag, als sie in sein Leben trat und blieb.
Grischa, der nie wirklich jung gewesen war, besaß die Augen einer alten Seele. Mit einem Blick, der die Erdzeitalter durchstreift hatte. Menschen verloren sich in diesem Blick. So war es bis heute.
Oft genug konnten ihm die Menschen nicht lange in die Augen blicken. Welche Schrecken mochten in ihnen wohnen? Und wie hielt Larissa ihnen stand, mehr noch, tauchte regelrecht darin ein. Was sah sie dort, das den anderen verwehrt blieb? Wohnte tatsächlich so etwas wie Liebe und Güte in diesen Augen? Larissa war davon überzeugt. Sie selbst strahlte so heftig, dass ihr Licht in den Stunden ihres Zusammenseins die Finsternis verdrängte, die Grischa seit jeher begleitete. Doch sobald sie voneinander getrennt waren, weil er einen neuen Auftragannahm, kehrte die Finsternis wie ein treuer Köter zu ihm zurück, rieb sich an ihm, fletschte gemeinsam mit ihm die Zähne, entblößte Reißzähne, denn sie waren beide Raubtiere, und das Töten lag in ihrer Natur.
Er wusste um seine Anlagen.
Zum Beispiel, dass ihm Schmerz nichts ausmachte. Oder anderen Schmerzen zuzufügen. Erst durch Larissa fühlte er sich wie ein Mensch. Es dauerte, bis sie zusammenkamen. Gefunden hatten sie sich – jetzt galt es, die schnöde Welt zu überzeugen. Larissa trennte sich von ihrem Freund, dem nichtsnutzigen Sohn eines Kaders. Das gefiel dem Burschen naturgemäß nicht, er fing an, Larissa zu drangsalieren, bis zu der Nacht, in der Grischa ihn abpasste und ihn sich vornahm. Larissa bedeutete dem Bonzensohn nichts, sie war nur eines seiner vielen Spielzeuge, ein Zeitvertreib, für Grischa hingegen war sie alles.
Der Junge lachte ihn aus. Grischa war der schäbige Sohn eines trunksüchtigen Nichtsnutzes, eines stadtbekannten Schlägers und Hurenbocks, der bedeutungslose Bastard eines bedeutungslosen Mannes.
»Weißt du nicht, wer mein Vater ist, du Arschloch. Ich lasse dich zerquetschen.«
»Nein«, sagte Grischa, »wenn du ein Mann bist, tust du’s selbst. Hier und jetzt.«
Der Junge war im Eishockeyverein, er war größer und kräftiger als Grischa. Sie waren alleine. Selbst wenn er verlor, würde er nicht bloßgestellt sein, dachte der Junge, denn sein Ansehen und das seines Vaters waren ihm wichtiger als so eine Kleinigkeit wie Selbstachtung. »Hurensohn«, brüllte er und stürzte sich auf Grischa, aber der stand schon nicht mehr an der gleichen Stelle wie zuvor, die Nacht hatte ihn verschluckt und spuckte ihn im Rücken des anderen wieder aus, und dann trat ihm Grischa in die Kniekehle, und als der größere Kerl am Boden war, bestrafte er ihn. Blut tränkte den Boden unter ihnen, Blut im Gesicht seines Gegners, Blut an Grischas Händen.»Bitte«, weinte der Kerl. Er war übel zugerichtet, und später erzählte er allen, dass mehrere betrunkene Männer ihn überfallen hatten. Grischa setzte seinen Stiefel auf die Kehle des Kerls.
Sagte: »Dieses Mädchen ist für dich gestorben. Sie ist tot. Vergiss sie! Oder du bist tot! Wenn du deinen verschissenen Vater auf mich hetzt, dann lösche ich deine verdammte Familie aus.«
Er hatte keine Angst, dachte nicht an mögliche Konsequenzen, an Verbindungen, die der andere hätte spielen lassen können. Er war bereit, für Larissa zu töten. Er war bereit, für sie zu sterben.
Der andere las es, durch einen Blutschleier hindurch, in Grischas kalten, grausamen Augen. Und er verstand.
Grischa hörte niemals wieder etwas von ihm.
Larissa erfuhr nie etwas davon. Sie sah nur, dass der andere Kerl sich nicht mehr in ihre Nähe wagte, sie regelrecht mied. Sie machte sich ihre Gedanken, und sie ahnte, dass Grischa etwas damit zu tun hatte, es schmeichelte ihr, und zugleich hinterließ es ein schales, unangenehmes Gefühl. Aber sie fragte ihn nie danach.
Sie verbrachten ihre Zeit zusammen in diesem speziellen Käfig, den nur Liebende um sich aufbauen: Die Welt hatte das zu akzeptieren oder draußen vor zu bleiben.
Er erinnerte sich an ihre gemeinsamen Kinobesuche.
An die Filme erinnerte er sich nicht mehr, nur daran, wie er sich anstelle der Heldin Larissa auf die Leinwand träumte. Er erinnerte sich daran, wie lange und ausdauernd sie miteinander sprachen. Er hatte zuvor nie viel gesprochen, Worte waren ihm suspekt, er fühlte sich im Schweigen wohler. Es war Larissa, die seinen Worten Leben verlieh. Zusammen bauten sie Luftschlösser. Und nach jedem vorläufigen
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