Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
hatte sie so einen lahmen Satz nicht verdient.
Auch Lydia stand auf und gab ihm die Hand – die rechte, unverletzte. Abraham hielt sie länger als nötig.
Die andere verbarg sie hinter ihrem Rücken – so wie sie auch sich selbst verbarg.
KAPITEL
SECHZEHN
Warum so traurig? Wie sie am Fenster dasteht und hinausblickt in den Tag, der Nacht sein will, spürst du ihr Verlangen, sich so wie früher rettungs- und besinnungslos in den Taumel der Nacht zu stürzen. Die Vergangenheit, die in ihr wütet, kann es kaum erwarten, zu den alten Ritualen zurückzukehren. Die Nacht ruft immer noch ihren Namen, und es ist immer noch schwer für sie, zu widerstehen. Aber es war die Nacht, die sie beinahe umbrachte, sie aufdieselbe Kante zutrieb, über die du dann gesprungen bist. Erst jetzt, wo du alles hinter dir gelassen hast, bist du fähig, ihre wahre Gestalt zu erkennen. Erst jetzt, versorgt mit den Ereignissen ihres weiteren Lebens ohne dich, nach dem man euch auseinanderriss und trennte, verstehst du, dass sie dasselbe Taumeln am Abgrund durchmachte wie du. Ihr seid die Kinder der verlorenen Jahre, nicht der Geborgenheit. Lydia zündet sich eine Zigarette an und zieht an ihr und dann, weil sie alleine ist und dich spürt, schickt sie dir einen Gruß, um dich wissen zu lassen, dass sie an dich denkt. Dazu krempelt sie ihren Ärmel hoch und löscht die Glut auf ihrer Haut, wo die anderen Narben den Neuankömmling in ihren Reihen aufnehmen. Du erinnerst dich – du erinnerst dich an alles, und das wird nie mehr aufhören, denn der Tod ist nichts anderes als ein Sich-Verlieren in dem, was und wer man war, also, du erinnerst dich an den Tag, als ihr euch nach Jahren wiedersaht. Unter einer Autobahnbrücke, inmitten einer wilden Müllkippe, und im Dunkeln begleitete euch das wilde Stöhnen und Weinen eines alten betrunkenen Mannes, der sich wer weiß wohin schleppt. Du warst deiner neuesten Pflegefamilie entkommen, ihre Liebe war dir zu viel, zu präzise und zu scharf, du schnittest dich an ihr auf. Lydia hatte einen Rockertypen in ihrer Sozialwohnung bier- und drogenselig zurückgelassen. Sie war erst seit ein paar Wochen raus aus der Geschlossenen und zurück auf der Straße. Sie trug zu viel Make-up, verschmierte, schmutzige Farben, die sie wie eine Kriegerin rüberkommen ließen. O ja, sie war damals auf dem Kriegspfad. Sie präsentierte dir ihre Narben wie ein stolzer Indianer. Du hast nicht viel geredet in dieser Nacht – auch weil dir klar war, dass deine Schwester unter Drogen stand. Sie hatte diese Fluchtmöglichkeit selbst gefunden, und die Rocker, Zocker und Zuhälterkerle dienten ihr nur, um an das Zeug heranzukommen. Kein Wort von Liebe erfüllte sie. Sie war so weit weg von dir und allem, sie gehörte bereits der kaputten Seite der Nacht. Sie redete wirres Zeug, schmiedete Rachepläne gegen die Ungerechtigkeit der Welt, ohne den Feind zu kennen. Da war ein Flackern in ihren Augen, das dich an das Feuer von Brandstifternerinnerte, die nur dann Glück empfinden, wenn die Welt um sie herum in Flammen steht. Und war sie nicht auch deswegen in der Psychiatrie gewesen? Weil das Feuer ihren Namen kannte. Ihr wusstet, ihr konntet nicht zusammenbleiben. Du wurdest bereits vom Jugendamt gesucht, wieder einmal, und diesmal stand dir eine härtere Gangart bevor. Und Lydia, die dich gerettet hatte, musste sich jetzt selbst retten – falls sie bei diesem selbstzerstörerischen Kurs lange genug am Leben blieb. Alles war ungewiss. Alle Antworten lagen jenseits der Nacht. Ihr hörtet, wie der Betrunkene ins feuchte Gras fiel. Er weinte jetzt lauter und rief Namen aus seiner Kindheit, beschwor die Hilfe seiner Mutter, und das machte Lydia so rasend, dass sie ihn am liebsten mit Fußtritten kaltgestellt hätte. Aber du klammertest dich an ihren gezeichneten Körper und endlich flossen deine Worte wie Tränen in einen Ozean und deine Stimme wisperte und bat, und sie ließ es zu. Es war euer letzter Körperkontakt, denn sehr viel später gingst du fort, ranntest bis ans Ende der Welt, und Lydia fand vorübergehend Frieden und Halt in Tabletten und einem Mann, der dem Tag gehörte. Ihr solltet euch bis gestern nie wiedersehen. Wie sehr sie sich verändert hatte, deine schöne starke Schwester. Du wolltest sie noch einmal sehen. Da war kein zerstörerisches Feuer mehr in ihren Augen, nur noch der Rest einer nicht ausgetretenen Glut, die immer schwelen wird.
Die Welt ist zerbrochen, und du wanderst durch ihre Scherben. Die Zeit ist aus
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