Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Nichtreaktion auf den ihrer Mutter.)
Nun, sie kochte keinen Kaffee. Stattdessen stand sie am kleinen Küchenfenster, den Rücken ihm zugewandt, er sah den Rauch einer Zigarette über ihrem Kopf hängen, sah, dass eine Hand zur Faust verkrampft war und dass ihre Fingernägel sich tief in die Haut schnitten. Sie blutete, schien aber weder Schmerz noch das Blut wahrzunehmen. Behutsam, um sie nicht zu erschrecken, trat Abraham hinter sie. Da spürte sie schon seinen Atem, seine Nähe, auch die Wärme, die von ihm ausging. Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle, es hörte sich an wie bei einem waidwunden Tier.
»Ihre Hand«, sagte Abraham und nahm die verkrampfte, verletzte Hand in seine eigene. Sie war eiskalt, und deshalb schloss er auch seine zweite darum.
»Ich kann das immer noch, wissen Sie«, sagte Lydia leise.
Er sah, was sie meinte, fragte aber trotzdem: »Was?«
»Mich verletzen.«
»Besitzen Sie einen Verbandskasten?«
»Lassen Sie nur. Etwas Wasser genügt.«
Ihre Hand löste sich wieder aus den seinen. Abraham gab sie nur widerwillig frei. Sie drehte in der Spüle den Wasserhahn auf und hielt ihre verletzte Hand unter den warmen Strahl. Ihre Fingernägel hatten die Oberfläche ihrer Haut aufgeritzt. Nichtzum ersten Mal, überlegte Abraham, denn dieses wunde Feld war schon öfters beackert worden. Und als sein Blick ihre freiliegenden Unterarme streifte, fielen ihm noch mehr Furchen auf. Wieso überraschte ihn das nicht?
»Ertappt«, sagte sie, als sie seinen Blick auffing.
»Tut mir leid«, sagte er.
»Eine alte ungesunde Angewohnheit.«
»Das geht mich nichts an.«
»Doch, tut es. Sie sind Polizist, Sie sehen oft Menschen, die verletzt sind, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und macht es Ihnen noch etwas aus?«
»Ja. Ich schätze, ich will mich einfach nicht daran gewöhnen.«
Lydia schlang sich ein sauberes Küchentuch um ihre Hand. Sie lachte, dunkel und anziehend.
»Eine Frau in Schwierigkeiten«, sagte sie.
»Sie sind nur durcheinander, das ist verständlich. Ich habe Ihnen mein Beileid noch gar nicht ausgesprochen.« Das hatte er tatsächlich nicht. Während der Fahrt in seinem Wagen hatte Lydia die meiste Zeit über geschwiegen, und Abraham hatte sich zurückgenommen, um ihr die Zeit zu geben, die Ereignisse der letzten Stunde zu verarbeiten.
»Ja, danke.«
»Ich würde Ihnen gerne mehr als nur das anbieten«, sagte Abraham.
Schnell, zu schnell sagte sie: »Ich komme schon zurecht.«
»Nein, kommen Sie nicht.«
»Nein?« Ihre Stimme wurde wieder hart.
Abraham war verlegen und hilflos zugleich. Das lag an ihr, die seine stille Souveränität durcheinanderbrachte. Sie ist so ganz anders als Erin, dachte er, und alleine, dass er sie mit Erin verglich, zeigte, wie sehr er durch den Wind war. Was heute Morgen (und er erinnerte sich noch gut an Erins Gegenwart, ihreWärme, aber auch an die Kluft zwischen ihnen jenseits ihrer Körper) mit zwei Toten begonnen hatte, hatte ihn mit dieser Frau zusammengebracht, und jetzt stand er mit ihr in ihrer Küche und wollte mehr über sie erfahren.
Draußen nahm der Himmel inzwischen eine noch dunklere Färbung an – als hätte ein gigantischer Kalmar Tinte ausgestoßen. Die Dunkelheit in der Küche wurde unangenehmer, drückender. Die Nacht, die erst vor ein paar Stunden dem Tag hatte weichen müssen, schien mitsamt den tiefschwarzen Wolken und der Kälte zurückgekehrt zu sein. Es gab genügend Lampen in dieser Wohnung, aber Lydia Beenhakker schien sie nur selten zu benutzen. Sie war, so dachte er, eine Frau, die die Schatten vorzog.
»Ich muss Ihnen einige Fragen stellen«, sagte er.
»Ist das jetzt der offizielle Teil?«
»Ich fürchte, ja.«
Sie verließen die Küche und gingen ins Wohnzimmer. Abraham nahm auf einem Stuhl Platz, während Lydia sich auf die Couch setzte.
»Wie lange haben Sie Ihren Bruder nicht mehr gesehen?«
»Zwanzig Jahre, vielleicht länger.«
»Das ist eine lange Zeit«, sagte er.
»Ja.«
»Gab es einen Grund dafür … einen Streit …«
»Nein. Jeder lebte sein Leben. Ich hier, er in Melbourne.«
»Hat er Ihnen erzählt, warum er auswanderte?«
»Nun, jeder hat seine eigenen Gründe«, sagte sie. »Er kam mit Berlin nicht mehr zurecht. Vielleicht setzte ihm das Wetter hier zu.«
»Hatte er drüben einen Job?«
»Er arbeitete in der Dienstleistungsbranche. Ich glaube, er verdiente ganz gut.«
»Also hatten Sie Kontakt miteinander?«
»Ab und an.«
»Wie oft in zwanzig oder mehr Jahren.«
»Ein-,
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