Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Füllhorn aus Lügen gesegnet. Leg dich hin, ruhe dich aus, bleib liegen, komm nicht mehr hoch.
Leere deine Taschen.
Schließe deine Augen.
Es ist so einfach …
Polly blickte angestrengt zu Mevissen, der fast schon über dem Lenkrad hing, weil er wie ein Besessener fuhr, und sie sah, halluzinierte, wie sich der Dämon jetzt ihm zuwandte. Schlaf nicht ein, Christian, dachte sie und wollte es ihm sagen, denn dort draußen waren sie das einzige Licht, das sich durch diese schier ewige Mitternacht bohrte, und wenn Mevissen einschlief und einen Unfall baute, dann würden sie im Graben landen und erfrieren oder an ihren Verletzungen verbluten; sie würden sterben.
Bei einem Unfall.
So wie ihr Vater.
Nein, dachte Polly, nein … aber schon füllten sich ihre Augen mit Tränen, ihr Bild verdoppelte, verdreifachte sich und zerbrach dann in Prismen aus Licht und Farben. Ihre bewussten Gedanken rissen ab wie die Kette aus gezuckerten Perlen, die sie als Kind um den Hals getragen hatte, ein letztes Geschenk ihres Vaters.
Und wie Perlen tropften die Erinnerungen in den dunklen Schacht ihres Schlafes. Und die Erschöpfung nahm sie in ihre Arme.
Als Polly acht war, starb ihr Vater. Er raste mit seinem Motorrad, es war dieselbe Maschine, auf der er sie manchmal zu heimlichen Spritztouren mitnahm, frontal gegen einen LKW. (Sein Anblick war so schrecklich, dass die Beamten der Familie dringend abrieten, ihn noch einmal zu sehen. Identifiziert wurde er über seine Zähne.)
Später erfuhr sie, dass er an Depressionen litt – als würde das den Schmerz und das Entsetzen auch nur um einen Deut mildern –, aber damals war es für sie so, dass er ihr an einem völlig belanglosen Morgen wie jeder andere einen Kuss auf die Wange drückte und aus der Türe ging … und einfach nicht mehr zurückkam. Er war weg, verschwunden, so als hätte sich der Boden unter seinen Füßen geöffnet und der abgrundtiefe Schlundihn ihr geraubt. Seitdem kreiste Schmerz in allen Dingen um sie herum.
Die Beerdigung war wie der Schlag eines Hammers auf einer Auktion – ihr Glück und ihre Geborgenheit wurden unter Wert versteigert. Dann, als sie, immer noch verwirrt und benommen zwischen all den schweigenden Trauergästen, den angeblichen Freunden ihres Vaters, die seine Erkrankung weder bemerkt noch hatten verstehen wollen, herumirrte, nahm ihre Mutter sie beiseite. Sie war nie eine ausgeglichene, besonders mitfühlende Frau gewesen, und als ihr Mann sich mit seinem Motorrad (das sie immer schon gehasst hatte, weil es ihn viel zu oft von ihren maßlosen Forderungen und Verdächtigungen wegtrug) zerlegte, ließ sie in ihrem Inneren stählerne Rollläden herunter. Polly blickte in die harten Augen ihrer Mutter. Mit harscher Stimme, laut genug, dass alle um sie herum diese Lektion mitbekamen, sagte sie: »Nichts ist sicher. Niemand. Niemals.«
Das Trostloseste war, dass keiner der Anwesenden der Witwe widersprach. Denn Polly weinte und fragte jeden, ob das wahr sei. Doch keiner dieser düsteren Menschen antwortete ihr. Stattdessen tranken sie, schwiegen, blickten zu Boden oder durch sie hindurch, so als wäre sie nicht mehr von Belang und damit auch schon gar nicht mehr da. Ein Geist in ihrem eigenen Leben. Polly begriff tatsächlich etwas: Sie war alleine, und niemand würde ihr helfen.
Niemand half ihr, und so geriet sie an die Falschen. Es waren die immer gleichen Scheißkerle mit den gleichen Lügen, die sie ihr mit einem Goldrand servierten, weil sie etwas an sich hatte, das diese Kerle anzog, ihre Sanftheit, ihre Unbeholfenheit, es lag an ihrem seltsam schutzlosen Gesicht mit den großen Augen, die manchmal in die Tiefe des Raumes und in die Welt blickten, weil sie dort nach etwas suchte, das sie verloren hatte.
Die Schule erlebte sie wie einen schlechten Traum, aus dem sie Gott sei Dank schnell erwachte.
Weder Freunde noch Verbündete fanden sich dort – sie galt als kontaminiert. Sie trug den Tod an ihren Fingern, die anderen Mädchen mieden sie. Sie hatten ja alle noch ihre Väter, die sie von der Schule abholten, und keine Mutter, die sich innerlich verrammelte und verriegelte. Mit den Jungs war es einfacher – die wollten nicht mit ihr befreundet sein oder sie in ihre Clique aufnehmen, die wollten nur Sex. Das war okay für Polly. Es war besser, als alleine zu sein. Gesichter und Namen waren belanglos, ihr Körper besaß kein Gedächtnis, er nahm und empfing und funktionierte, was das anging, so hervorragend, dass sie so tat, als
Weitere Kostenlose Bücher