Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
wirbelt herum und in die Arme seines Bruders hinein und ruft: »Ich kann nicht weg, ich kann nicht weg.« Es hört sich an wie ein Hilfeschrei, und Robert fragt sich, ob auch die Frauen so geschrien haben, als ihr Vater sich ihnen als das offenbarte, was er immer schon war und was sie vielleicht geahnt, aber nicht hatten glauben wollen, bis der Dämon seine menschliche Gestalt abstreifte wie einen zu engen, lästigen und überflüssigen Anzug aus Haut, um ihnen in seiner nackten blutigen Gestalt die Pforten zur Hölle zu öffnen. Und Robert hält ihn fest und sagt:
»Dann halten wir eben stand, wir beide, zusammen, immerzusammen«, und Jahre später, als er sich mit dem Verbrechen einlässt und einem anderen Teufel namens Bela Nagy, wird er sich an diese Worte erinnern – in der Nacht, als er Berlin Hals über Kopf verlässt, hinter sich die Trümmer seiner Existenz und Frank, der den Glauben an den Felsen verliert. Also bleiben sie und bewegen sich gemeinsam Seite an Seite durch die bedrückende Enge der Laube, alles wirkt fehl am Platze, besonders sie selbst, und es ist, als wäre ihre Orientierungslosigkeit Teil eines viel größeren Plans, der auf ihr restliches Leben übergreift.
»Warum? Warum hier?«
»Weil er einen sicheren, ungestörten Platz brauchte«, sagt Robert. Er weiß in dieser Sache mehr als Frank – noch, denn leider hat sich sein Bruder mit Lohmann, dem Mordermittler, angefreundet und erfährt so nach und nach Dinge, die er gar nicht wissen sollte. Zumindest nicht jetzt. Robert selbst hat auch mit Lohmann gesprochen. Eigentlich dürfte der ihm gar keine Ermittlungsergebnisse mitteilen – aber er fühlt sich mitschuldig am Selbstmord ihrer Mutter und sieht das als eine Art von Bringschuld an. Ungeheuerliches erfährt Robert so: dass ihr Vater eine Stadtwohnung unter falschem Namen anmietete, wo er sich mit den Frauen traf. Dass er eine Familie hatte, erfuhren die nicht – und als eine von ihnen das doch herausfand und ihn verlassen wollte, brachte er sie um. Ihr Vater führte ein Doppelleben, eine, wie es Lohmann nennt, »magische Biografie«, indem er das zu sein vorgab, was er nicht war, aber wovon er glaubte, dass es ihm bestimmt war. Frauenheld, Künstler, Mörder, Dämon. Tatsächlich aber war er nur ein ordinärer grauer Gutachter für den medizinischen Dienst einer Krankenkasse. So lernte er übrigens eines seiner Opfer auch kennen – durch ihre Patientenakte.
In der Stadtwohnung, die in Steglitz liegt, hatte er sich ein Atelier eingerichtet. Dort malte und zeichnete er seine Gespielinnen, vorzugsweise nackt und in obszönen Positionen. Einem Faun gleich verschlang er die Frauen mit seiner grauenhaft übersteigerten manischen Lust – er tat Dinge mit ihnen, die ihm ihre Mutter niemalserlaubt hätte. Ein düsterer Doppelgänger, der seine Gesichtszüge trug, weilte dort und steigerte sich in eine psychotische sexuelle Raserei hinein. Robert vernimmt jetzt Lohmanns Worte wieder in seinem Kopf.
»Tja, irgendwann begriffen die Frauen, dass er sie a) unter- und miteinander betrog und b) dass sein Verlangen immer bösartiger wurde. Aber er war ein vorzüglicher Schauspieler, ein Mann der Masken und der Worte. In den besten Jahren, kultiviert, charmant, solange er es sein musste. Ein begnadeter Lügner, das sind sie alle. Er jonglierte mit mehreren Variablen gleichzeitig, dann löschte er eine nach der anderen aus. Vorher zerschnitt er die Bilder, die er von ihnen gemalt hatte. Wir können nur spekulieren … wahrscheinlich nahm er ihre Ermordung vorweg. Die Verteidigung plant, die Morde als Affekttaten hinzustellen – na klar, und das dreimal hintereinander, das nenn ich dreimal draufgeschissen, von wegen mangelnde Impulskontrolle und so. Euer Vater ist ein durchtriebener Psychopath, der hätte nicht aufgehört.« Aber das war nicht alles. So erfuhr Robert auch, dass ihr Vater schon in seiner Jugend wegen sexueller Belästigung und Tierquälerei vorbestraft war. (»Das schon klassische Anfangsverhalten eines Sadisten«, erklärte ihm Lohmann.) Vorstrafen, von denen er ihrer Mutter naturgemäß nichts erzählt hatte. Stattdessen stand er sauber und proper da – ein wahrer Unschuldsengel, ein wenig bieder, ein wenig langweilig, ein liebender, aufmerksamer, tüchtiger, schläfriger, hilfsbereiter, gewitzter Mann.
Ein Mann wie viele andere auch.
Das war eindeutig zu viel Täterpsychologie für Robert.
»Aber uns hat er nie etwas getan … und Mutter auch nicht … er war so
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