Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
…«
»Normal«, sagte Lohmann und verzog sein Gesicht. »Er ist wahrscheinlich durch eure Mutter, durch euer gemeinsames Leben in seinem inneren Chaos stabilisiert worden … ja, auch das geschieht manchmal. Sie fallen dann in einen dunklen langen Schlaf. Das kann jahrelang gut gehen, bis der finstere mörderische Drang,der ja nicht weg ist, sondern nur weggeschlossen, sich wieder in Erinnerung ruft und wie ein altes Versprechen darauf besteht, eingelöst zu werden.«
»Er hätte dagegen ankämpfen müssen«, sagte Robert mit tonloser Stimme, als wäre das alles eine Sache des Willens und nicht des Wollens.
»Das hat er«, sagte Lohmann sanft, »er hat sehr lange dagegen angekämpft … aber am Ende haben ihn die Dämonen gekriegt. Letztendlich kann niemand ewig vor dem weglaufen, was in ihm wütet.«
Während Robert Lohmanns Stimme wieder aus seinem Kopf drängt, nähert sich Frank dem Bett, das trostlos entkernt vor ihm steht, dort hat ihr Vater die Frauen nach einer stundenlangen sexuellen Tortur abgeschlachtet. Beide nackt und sich in ihrem Blut wälzend, die in Raserei gesteigerte Parodie eines Liebeskampfes. Und Franks Blick schwebt losgelöst von seinem Körper auf den Tatort zu und durch Zeit und Raum, und seine mit dunklen Winkeln und Abgründen gesäumte VORSTELLUNG der Morde materialisiert sich, wird REAL und GEGENWÄRTIG und erschafft die Reproduktion dessen, was hier geschehen ist. Denn das Echo allen Schreckens hat die Laube nicht verlassen. Bösartig grinsend und mit hyänenartigem Kichern drängen sich Todesboten um die beiden Brüder. Frank würgt und krampft, und als Robert, erschrocken von diesen Geräuschen, die aus seinem Bruder kommen, nach dessen Hand greift, sieht er MIT und DURCH die Augen seines Bruders auf eine Art und Weise, die nicht von dieser Welt ist … und sieht … wie Karl Abraham sich, Schaum vor dem Mund, TOLLWÜTIG , auf eine an Händen und Füßen gefesselte und geknebelte Frau stürzt und ihr ein Jagdmesser in den weichen bloßen Unterleib rammt, ihr den Knebel rausreißt und ihre Zunge mitsamt Zungenwurzel kappt, ihr die Wangen wie ein warmes duftendes Sonntagmorgenbrötchen aufschneidet, ihre Lippen mit der Klinge wie bei einem Gebet kreuzt, ihr ein Auge aussticht und seine Finger in die blutige Höhle hineinbohrt, als fände er dort die Gründe fürseinen Wahnsinn, und als das nicht der Fall ist, weitersucht, indem er das Messer wie eine Erkundungssonde in die tieferen Schichten hineinbohrt …
Frank wirbelt herum, lässt dabei Roberts Hand los und kotzt.
Dieser ist wie elektrisiert. Was war das eben? WAS ZUR HÖLLE …? Ja, genau DIE.
»Wir gehen«, sagt er und schwört, dass, wenn der Kleine immer noch nicht genug hat, er ihn zwingen wird …
»Nichts wie weg«, stöhnt Frank.
Draußen breitet die Nacht ihre ledrigen Schwingen aus. Sie sprechen nicht über das, was sie gesehen haben … oder was ihnen offenbart wurde, wie auch immer. Robert glaubt weder ans Übernatürliche noch an Gott. Er vertraut dem festen Grund unter seinen Füßen, darauf, dass auf die Nacht der Tag folgt mit der beruhigenden zuverlässigen Regelmäßigkeit der Natur. Dort drinnen war nichts. Sie haben NICHTS gesehen. Sie sprechen nicht darüber, sie werden bis zu dem Tag, an dem sich ihre Wege trennen, nicht mehr über diesen späten Nachmittag reden. Sie laufen durch die Laubenkolonie und klettern über den Zaun und verschwinden wieder in der Welt.
Und dann gehen sie, jeder für sich, darin verloren.
Robert klappte die Augen auf und war für eine Sekunde blind in der Schwärze seiner Erinnerung, stolperte durch eine kalte, verdunkelte, steinerne Halle, deren Boden mit blutigen Fleischfetzen ausgelegt war, und sah Frauenkörper, die sich hinter breiten riesigen Säulen versteckten, Frauen ohne Gesichter, ohne Brüste, Scham, entbeinte, entkernte Frauen, namenlose Schreckensgestalten, die Karl Abrahams Namen brüllten wie Furien, und er wusste, sie brüllten und verwünschten ihn im Augenblick ihrer Ermordung … und in den tiefsten Tiefen dieser Halle stand sein Vater nackt mit aufgerichtetem Schwanz und blutigem Grinsen vor einer Leinwand, und sein Messer schnitt rostrote Schlitze in ihre Haut …
Beim zweiten Anlauf erwachte er endlich und spürte Selinas unversehrten Körper neben seinem und ihren lichten, sanften Geist, ihre beruhigende, ihn glücklich machende Gegenwart. Sie murmelte seinen Namen und drängte sich noch enger an ihn. Er schlang einen Arm um sie und vergrub sein
Weitere Kostenlose Bücher