Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
ihrer Mutter Kraft und Stärke wie bei einer Bluttransfusion übertragen. Aber das war nur eine Illusion, ihre Mutter verfiel zusehends trotz aller zunehmend verzweifelten ärztlichen Gegenmaßnahmen und hatte nun einen Punkt erreicht, in dem sie zwischen Leben und Tod hing wie ein zappelndes Insekt in einem Spinnennetz. Selina nahm die schmalen, knochigen Hände ihrer Mutter. Haut so dünn wie Pergament, mit blauen Flecken übersät, wo man Infusionen angelegt hatte. Infusionen, die nun nicht mehr nötig waren. Die Ärzte wollten sie in zwei Tagen in ein Hospiz bringen lassen. Selina hatte es ausgesucht – ein anderer Ort, ein anderer Raum. Dasselbe Ende der Geschichte.
Und danach? Was dann? Weitermachen? Weiter surfen, auf die nächste Welle warten, die sie wohin auch immer bringt? Eine Familie gründen? Wer, ich? Du machst Witze. In dieser Stadt war das Alleinsein keine Schande, sondern Teil eines solitären Lebensgefühls. Dann dachte sie an den Mann, der draußen auf sie wartete. Gestern war er noch ein Fremder gewesen, und normalerweise blieben sie das auch. Männer kennenzulernen war so einfach – vor allem, wenn man sie nicht behalten wollte. Der hier aber war tatsächlich geblieben.
Und sie wollte nicht, dass er einfach wieder so aus ihrem Leben verschwand.
Ihre Mutter atmete schwer. Der Krebs hatte ihre Lungen zerfressen. Ihre Lippen bewegten sich, suchten nach Worten, formulierten sie schwerfällig. Selina beugte sich über sie, so dass sie beinahe Wange an Wange waren, das letzte Mal war sie ihr als Kind auch körperlich so nahe gewesen.
»Mama«, sagte sie und verfiel wieder in ihre Klein-Mädchen-Stimme.
»Dein Vater … er war gestern hier.«
Selina hatte sich nicht verhört, nicht, wenn sie so nahe war, und doch klang der Satz irreal und unglaubwürdig. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass Menschen im Angesicht des Todesmanchmal halluzinierten … dass sie Dinge herbeisehnten, die es ihnen erleichterten loszulassen … Erinnerungen und Träume und Sehnsüchte, die buchstäblich Gestalt annahmen.
»O Mama«, sagte Selina, erschüttert und wütend zugleich. Beide Gefühle transportiert durch die Erwähnung eines Mannes, der sich Vater nannte und der für sie nichts anderes war als die bloße Abwesenheit von Geborgenheit und Vertrauen. Ein schemenhaftes Gesicht, Schritte im Schatten, eine flüchtige, fliehende Bewegung.
Sie spürte, wie eine unangenehme Hitze in ihr aufstieg, lodernder Zorn, nein, dieses Phantom hatte sie immer noch nicht überwunden. Ihre Mutter ebenfalls nicht. Seit sie im Sterben lag, hatte sie ihn immer wieder erwähnt und Selina damit ungeheuer zugesetzt. Was sollte sie tun? Sie wusste ja nicht mal, ob er überhaupt noch lebte. Er hatte sich vor zig Jahren aus dem Staub gemacht und nichts als Chaos hinterlassen, Schulden und gebrochene Herzen.
Selina erinnerte sich schon lange nicht mehr an den Mann, der sie als Kind gebadet hatte, der mit ihr im Sandkasten spielte und der ihr vom Nachtvogel erzählte, der vor dem Bild des Mondes schwebte und auf die Menschen herunterblickte. Sie erinnerte sich nur an Gerichtsvollzieher, an ein zwangsgeräumtes Haus, an die vielen Tabletten und den Wein, mit dem ihre Mutter sich in den Schlaf flüchtete. An endlose Behördengänge, Demütigungen, an klaustrophobisch kleine Wohnungen in immer mieseren Gegenden.
»Mama, bitte«, sagte sie.
»Er war da. Er war bei mir.« Der Blick ihrer Mutter wurde plötzlich ganz klar. Einen Moment lang war sie von Krankheit und Tod befreit, war wieder unversehrt und in Sicherheit, und dieser Blick ging Selina durch Mark und Bein. Sterbende lügen nicht, hieß es. Sie haben keinen Grund mehr zu lügen, nicht wahr?
»Was sagst du da?«
»Er war hier, gestern, am Abend, am Ende der Besuchszeit, ein paar Minuten nur. Die Tür öffnete sich, und da war er.«
Ihre Mutter lächelte, als sie daran dachte. Es war kein Traum gewesen, keine Halluzination, denn keines von beiden hätte jemals ein so starkes Gefühl in ihr auszulösen vermocht. Die Verbitterung, die Enttäuschung, die Wut über seinen Abgang besaßen in der unmittelbaren Nähe des Todes keine Bedeutung mehr. Wonach sie sich sehnte, war Frieden und Erlösung und damit verbunden Verzeihen und Vergeben.
Sie hatte während ihres Siechtums, versunken zwischen Tag und Traum, immer wieder sein Gesicht heraufbeschworen; seltsam, während die Welt um sie herum zusehends verblasste, gewann die Erinnerung an ihren Mann zunehmend an Farbe und Intensität. Und
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