Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
schon vergessen?«
    Â»Aber Weaver, was ist mit deinem Stipendium? Verlierst du das dann nicht?«
    Â»Es gibt immer noch nächsten Herbst. Ich bin sicher. daß ich sie dazu kriegen kann, es ein Jahr zurückzustellen«, sagte er, aber ich hörte seiner Stimme an, daß er das nicht glaubte.
    Ich weinte nicht, als Miss Wilcox ging. Oder als Martha so gemeine Dinge zu mir sagte. Ich weinte nicht, als Pa mich vom Stuhl schlug, und ich weinte auch nachts im Bett nicht, wenn ich ans Barnard dachte. Aber jetzt weinte ich wie ein Schloßhund. Ich weinte. als ob jemand gestorben wäre.
    Das traf auch zu.
    Ich sah ihn vor meinem geistigen Auge – einen großen, stolzen schwarzen Mann in Anzug und Krawatte.
    Er war würdevoll und furchteinflößend. Ein Mann. der einen ganzen Raum voller anderer Männer allein mit der Brillanz seiner Worte zum Schweigen bringen konnte. Ich sah ihn energisch und ernst mit einer Aktentasche unterm Arm eine Straße in der Stadt entlanggehen. Er warf mir einen Blick zu, ging eine Steintreppe hinauf und verschwand.
    Â»Oh!« schluchzte ich. »O Weaver, nein!«
    Â»Matt, was ist denn? Was ist denn los?« fragte er.
    Ich stand auf. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß er hierbleiben und in einem Speisesaal, einer Färberei oder einem Holzfällerlager arbeiten müßte. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Bis er alt, verbraucht und all seine Träume gestorben wären.
    Â»Geh, Weaver, geh einfach!« rief ich. »Ich kümmere mich um deine Mama. Ich, Royal, Minnie, Jim und Pa und Mrs. Loomis. Wir alle. Bestimmt. Aber geh! Bevor du für immer hier hängenbleibst. Wie eine Ameise im Teer.«
    Wie ich.

E
s
muß jetzt nach vier Uhr sein.
Ich konnte nicht wieder einschlafen. Nicht seit Grace mich besuchen kam. Der Himmel draußen vor meinem Fenster ist noch immer dunkel, aber ich kann das Rascheln von Nachttieren hören, die sich zur Ruhe legen, und das erste Zwitschern der Vögel.
    Ich habe alle Briefe von Grace gelesen, bis auf den letzten.
    South Otselic
5. Juli 1906
    Mein lieber Chester,
    ich sitze vor dem Küchenfeuer, und du wärst entsetzt, wenn du mich sehen könntest. Alle anderen sind im Bett. Die Mädchen sind heraufgekommen, und wir haben die letzten Knallfrösche krachenlassen. Unser Rasen ist etwa so grün wie die Ecke am Cortland House. Wie ich meinen 4. Juli verbracht habe, erzähle ich Dir, wenn wir uns sehen. Ich hoffe, du hattest eine schöne Zeit. Das ist der letzte Brief, den ich dir schreiben kann, Liebster. Ich habe das Gefühl, daß du vielleicht doch nicht kommst. Vielleicht ist es nicht richtig, aber ich habe das Gefühl, daß ich dich nie mehr sehen werde. Ach wäre doch schon Montag. Nächsten Sonntag übernachte ich bei Maude, Liebster, und am Morgen darauf fahre ich nach DeRuyter, wo ich gegen zehn eintreffen werde. Wenn du um 9.45 den Zug von Lehigh nimmst, kommst du gegen 11 an. Tut mir leid, daß ich nicht nach Hamilton kommen konnte. Papa und Mama wollten es nicht, und während der letzten zwei Wochen gab es so viele Dinge, um die ich kämpfen mußte. Sie glauben, daß ich nur zu einer Stippvisite nach DeRuyter fahre.
    Also, Liebster, wenn ich dort ankomme, gehe ich sofort ins Hotel und ich glaube nicht, daß ich jemanden von den Bekannten begegnen werde. Wenn doch, und sie mich bitten, ins Haus zu kommen, denke ich mir was aus, damit sie keinen Verdacht schöpfen. Ich sage ihnen, daß eine Freundin aus Cortland kommt, daß wir uns dort treffen, um zu einer Beerdigung oder einer Hochzeit in der Nähe zu gehen … Wahrscheinlich werde ich nicht gerade das sagen, aber mach dir keine Sorgen, ich werde es schon irgendwie schaffen
…
    Heute habe ich mich von ein paar Orten verabschiedet. Es gibt so viele Winkel hier, Liebster, die mir alle sehr ans Herz gewachsen sind. Fast mein ganzes Leben habe ich hier verbracht. Zuerst habe ich mich vom Gewächshaus mit dem vielen grünen Moos verabschiedet, dann vom Apfelbaum, wo wir unser Spielhaus hatten. Dann vom »Bienenkorb«, einem hübschen kleinen Häuschen im Obstgarten, und dann natürlich von all den Nachbarn, die mir, seit ich klein war, meine Kleider repariert und mich davor bewahrt haben, die Tracht Prügel zu kriegen, die ich verdiente.
    Ach, Liebster, du kannst dir nicht vorstellen, wie das alles für mich ist. Ich weiß, daß ich keinen von ihnen Wiedersehen

Weitere Kostenlose Bücher