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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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mich auch anstrengte, meine letzten Bilder von ihr zurückzudrängen, sie kamen trotzdem hoch.
    Ich sah, wie sie kurz vor ihrem Tod aussah, ihren hinfälligen Körper, ihr hohles Gesicht.
    Ich sah, wie sie weinte und stöhnte vor Schmerz. Und wie ihre eingesunkenen Augen plötzlich vor Wut blitzten, während sie schrie und Sachen auf uns warf.
    Ich sah, wie sie den Arzt, Pa, Tante Josie und Reverend Miller anflehte, sie nicht sterben zu lassen. Wie sie Lawton, mich und meine Schwestern immer und immer wieder küßte und unsere Gesichter zwischen ihren Händen festhielt. Wie sie weinte und weinte und mir verzweifelt erklärte, daß Pa nicht wisse, wie man Haare flocht, Kleider flickte oder Bohnen kochte.
    Ich sah, wie sie mich anflehte, nie wegzugehen, wie sie mir das Versprechen abnahm, zu bleiben und für ihre Kleinen zu sorgen.
    Und ich sah mich selbst, wie ich ihr dies mit Tränen in den Augen versprach.
    Die Erinnerungen verblaßten langsam. Ich öffnete die Augen. Die Zirpfrösche hatten zu quaken begonnen. Es wurde spät. Pa würde sich fragen, wo ich war. Als ich mich zum Gehen wandte, wäre ich fast auf ein junges Rotkehlchen getreten, das halb versteckt im Gras lag. Seine Flügel waren verdreht und gebrochen. und sein Körper steif und blutverschmiert.
    Das hat ein Habicht getan,
dachte ich und fragte mich, ob das Rotkehlchen das strahlende Blau des Himmels gesehen und die Sonne auf seinem Rücken gespürt hatte, bevor ihm die Flügel gebrochen wurden.

M
attie, mach das Licht aus!
Was tust du denn noch?« zischt eine Stimme im Dunkeln.
    Â»Nichts, Ada«, antworte ich und stecke schnell Grace Browns Brief in den Umschlag zurück. »Nur lesen.«
    Â»Um diese Zeit? Geh schlafen, um Himmels willen. Die Köchin treibt uns früh genug wieder raus!«
    Â»Seid doch still, verdammt noch mal!«
    Â»Paß bloß auf, daß die Köchin dich nicht fluchen hört, Fran«, sagt Ada warnend. »Sonst gibt’s was hinter die Ohren.«
    Â»Ich geb dir gleich was, wenn du den Mund nicht hältst, das schwör ich …«
    Â»Ich
soll Ohrfeigen kriegen? Ich hab doch die Lampe nicht angezündet und alle aufgeweckt. Und das nach so einem Tag … nach allem, was passiert ist …«, antwortet Ada mit belegter Stimme und beginnt zu weinen.
    Â»Tut mir leid, Ada. Ich lösch das Licht, ja? Jetzt schlaf wieder ein.«
    Sie schluckt und schnieft, dann sagt sie: »Sie liegt da unten, Matt. Ganz kalt und tot.«
    Â»Dann kann sie dir ja nichts tun, oder? Also schlaf jetzt.«
    Ich würde auch gern schlafen. Ich versuche es, aber es gelingt mir nicht. Jedesmal, wenn ich die Augen
    schließe, sehe ich Grace’ geschundenes Gesicht vor mir und höre Mr. Morrison zu Mr. Sperry sagen, daß es in Albany keinen Carl Grahm gibt.
    Ich warte eine Weile, bis ich keine quietschenden Bettfedern, kein Seufzen und Stöhnen von den Mädchen mehr hören kann, die es sich in der Hitze bequem zu machen versuchen. Und dann falte ich leise und vorsichtig den Brief wieder auf. Doch ich schaffe es nur, ihn zur Hälfte aufzufalten, als die Blätter knistern. Ich halte den Atem an und erwarte, daß Ada oder Fran mich erneut ausschimpfen, aber keine von beiden rührt sich. Es ist jetzt dunkel im Raum, doch neben meinem Bett ist ein Fenster, und im Mondlicht kann ich Grace’ Schrift gerade noch lesen.
    South Otselic
23. Juni 1906
    Mein lieber Chester,
    ich bin völlig außer mir, weil ich nichts von dir höre. Wenn du mir Dienstagabend geschrieben und den Brief am Mittwoch aufgegeben hast, gibt es doch keinen Grund, warum ich ihn nicht erhalten haben sollte. Bist du sicher, daß du ihn richtig adressiert hast? Ich bin jetzt fast eine Woche zu Hause und habe noch keine einzige Zeile von dir bekommen … Als ich am Donnerstagmorgen nichts von dir hörte, weinte ich, bekam deshalb Kopfschmerzen und blieb den ganzen Tag im Bett. Du kannst mir nicht die Schuld dafür geben, denn natürlich habe ich an alles gedacht. An diesem Abend kam mein Bruder herauf und sagte, er würde eine Ausfahrt mit mir machen, wenn ich am Morgen früh aufstehen würde
…
ich war so müde und ging eine Stunde nach unserer Rückkehr ins Bett. Später ging ich nach unten und mußte ganz allein zu Abend essen. Ja, Liebster, ich weiß, daß du lachst – ich kann dich förmlich hören – aber ehrlich, ich

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