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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Juni 06
    Mein lieber Chester,
    â€¦ wahrscheinlich werde ich sterben vor Freude, wenn ich Dich sehe, Liebster. Ich werde Dir sagen, daß ich mich viel mehr anstrengen, mir nicht mehr so viel Sorgen machen und die schrecklichen Dinge nicht mehr glauben will, die die Mädchen schreiben. Ich glaube, daß sie übertreiben, Liebster.
    Ich bin wohl verrückt, sonst könnte ich viel vernünftiger sein. Ich freue mich sehr, daß Du am See so viel Spaß gehabt hast, Liebster, und wünschte, ich wäre auch dort gewesen. Ich mag Wasser sehr gern, obwohl ich nicht schwimmen kann. Ich weine, und kann kaum schreiben. Wahrscheinlich deswegen, weil meine Schwester Mandoline spielt und »Love’s Young Dream« spielt. Ich bin ein wenig traurig …
    Es ist ein langer Brief, und es gibt noch viele Zeilen zu lesen, aber mein Blick schweift immer wieder zu der einen Stelle zurück:
Ich mag Wasser sehr gern, obwohl ich nicht schwimmen kann.
Ein Schauder überkommt mich. Ich schüttle ihn ab und lese weiter.
    â€¦
Chester, mein Seidenkleid ist das hübscheste Kleid, das ich jemals besessen habe, zumindest behaupten das alle. Mama findet, daß ich nicht viel Interesse daran gezeigt habe. Jedesmal, wenn ich es anprobieren muß, hab ich Angst. Mama versteht nicht, warum ich jedesmal weine, wenn sie mich ansehen … Chester, Liebster, ich hoffe, Du hast am 4. eine schöne Zeit. Wirklich, Liebster, es ist mir egal, wohin Du fährst oder mit wem, wenn Du mich nur am 7. abholen kommst. Bootfahren und Wasser macht Dir so viel Spaß, warum machst Du nicht einen Ausflug an einen See?…
    Ich kann nicht mehr weiterlesen und versuche, den Brief wieder in den Umschlag zu stecken, aber meine Hände zittern so sehr, daß ich es erst beim dritten Versuch schaffe.
    Er wußte, daß sie nicht schwimmen konnte. Er wußte es.
    Dann kommen mir die Tränen. Ich drück mir die Hände auf den Mund, damit niemand etwas hört, und weine, als würde mir das Herz brechen. Was es auch tut, glaube ich.
    Es gibt noch ein paar weitere Briefe, die ich aber nicht lesen kann. Ich hätte keinen einzigen lesen sollen, geschweige denn so viele. Ich starre ins Dunkel und kann Grace’ Gesicht vor mir sehen, wie sie mir die Briefe gibt. Ich höre sie sagen: »Verbrennen Sie sie. Bitte. Versprechen Sie’s mir. Niemand darf sie je zu Gesicht bekommen.«
    Ich drücke den Kopf in mein Kissen und schließe die Augen. Mir ist so kalt, und ich bin so müde. Ich möchte unbedingt schlafen, aber hinter meinen Lidern bewegt sich schwirrend die Dunkelheit, und ich kann an nichts anderes denken als an das schwarze Wasser des Sees, das über mir zusammenschlägt, in meine Augen, Ohren und meinen Mund eindringt und mich nach unten zieht, wenn ich mich dagegen wehre.
    Ich mag Wasser gern, obwohl ich nicht schwimmen kann
…

Gra• vid
    Das letzte Mal, als ich Miss Wilcox sah, sagte sie, »Eine Beerdigung auf dem Land« von Emily Dickinson sei Vollendung in acht Zeilen.
    Groß mach dies Bett.
    Mach es mit Ehrfurcht;
    Und wart darin, bis strahlend hell
    Der Jüngste Tag anbricht.
    Seine Matratze sei gerade,
    Sein Kissen sei rund;
    Kein lärmend Gelb der Sonne
    Laß stören diesen Grund.
    Diese Zeilen verblüfften mich. Sie waren so schön und klar wie ein Gebet. Leise sagte ich mir dieses Gedicht vor, während mir Royal von der neuen Maiskreuzung erzählte, die es bei Beckers Farm- und Futtermittelhandlung gab.
    Es war Mittwoch nachmittag, ich hatte einen halben Tag frei, und Royal wollte mich auf dem Weg nach Inlet bei Minnie absetzen. Als er mich beim Hotel abholte, kicherten Fran und Ada, Weaver verdrehte die Augen, und die Köchin lächelte, aber ich beachtete keinen von ihnen.
    Während wir fuhren, redete Royal wie ein Wasserfall. Ich nickte und tat mein Bestes, ihm zuzuhören. dachte aber darüber nach, wieviel besser
Groß mach dies Bett
klang im Gegensatz zu
Mach dies Bett groß.
was ich geschrieben hätte. Und wie heimtückisch Emily Dickinson war. Wie ein Schmetterling im Garten flatterte sie herum und versteckte sich hinter ihren Worten. Geschickt ließ sie einen glauben, sie rede nur über eine Beerdigung, ein Bett oder Rosen oder Nähen. Man vertraute ihr, doch dann kam sie heimlich von hinten und schlug einem mit dem Knüppel auf den Kopf. In »Charlotte Brontes Grab«, in »Der Wagen«, in »Die Ehefrau«, und

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