Das Licht des Nordens
plötzlich der Gedanke: Emily Dickinson war ein verdammt listiges Geschöpf.
Sich im Haus ihres Vaters zu vergraben, nicht zu heiraten, Einsiedlerin zu werden â das hatte sich für mich nach Aufgeben angehört, aber je mehr ich darüber nachdachte, um so mehr erschien es mir, daà sie durch Nicht-Kämpfen kämpfte. Und da ich ihre Gedichte kannte, traute ich ihr ein solch listiges Verhalten durchaus zu. Sicher war sie manchmal einsam und von ihrem Pa eingeschüchtert, aber ich wette. daà sie um Mitternacht, wenn im Haus alles dunkel war und ihr Pa schlief, das Treppengeländer hinunterrutschte und am Kronleuchter schaukelte. Ich wette. daà sie ganz berauscht war von ihrer Freiheit.
Ich habe fast hundert von Emilys Gedichten gelesen und kann zehn auswendig. Miss Wilcox behauptet, sie habe fast achtzehnhundert geschrieben. Ich sah meine Freundin Minnie an, die still schlief. Noch vor einem Jahr war sie ein Mädchen wie ich, wir kicherten in der Küche meiner Mama, alberten herum und warfen Apfelschalen über die Schultern, um zu sehen, ob sie die Initialen unserer Liebsten ergaben. Von diesem Mädchen war nichts mehr übrig. Es war fort. Und ganz tief drinnen wuÃte ich, daà Emily Dickinson kein einziges Gedicht geschrieben hätte, wenn sie zwei schreiende Babys und einen Ehemann gehabt hätte. der ihr wieder eines verpassen wollte, wenn sie einen Haushalt hätte versorgen, einen Garten pflegen, drei Kühe melken, zwanzig Hühner füttern und vier Aushilfen hätte bekochen müssen.
Da wurde mir klar, warum Emily, Jane und Louisa nicht geheiratet hatten, und es machte mir angst. Ich wuÃte auch, was Einsamkeit bedeutete, und ich wollte nicht mein ganzes Leben einsam sein. Trotzdem hatte ich keine Lust, meine Wörter aufzugeben. Ich wollte das eine nicht für das andere aufgeben müssen. Mark Twain muÃte das nicht. Charles Dickens auch nicht. Und John Milton genausowenig, obwohl es das Leben unzähliger Generationen von Schulkindern erleichtert hätte, wenn er es getan hätte.
Dann rief Royal nach mir, und ich muÃte Minnie aufwecken, um mich zu verabschieden. Als ich hinausging, war es ein strahlender, sonniger Nachmittag, und Royal nahm meine Hand, als wir zum Land seines Bruders fuhren, und er sagte mir, daà wir auch Land haben würden, und ein Haus mit Kühen und Hühnern und einem alten Sekretär, den seine GroÃmutter ihm versprochen hätte, und auÃerdem ein Fichtenholzbett. Er sagte, er habe etwas Geld auf der Seite, und ich erzählte ihm stolz, daà ich zehn Dollar und sechzig Cent gespart hätte, bevor ich ins Glenmore ging, dazu zwei Wochenlöhne (abzüglich der vier Dollar, die ich Pa gegeben hatte) und die Trinkgelder. Er sagte, das würde fast ausreichen, um einen guten Herd zu kaufen. Oder vielleicht ein Kalb. Es gefiel ihm so gut, über diese Dinge zu reden, daà er lächelte und den Arm um mich legte. Was sich einfach groÃartig anfühlte. Ich fühlte mich glücklich und geborgen. Genauso, als hätte man alle seine Tiere in den Stall gebracht, bevor ein schlimmes Unwetter anfängt. Ich kuschelte mich an ihn und stellte mir vor, wie es wohl wäre, im Dunkeln neben ihm in einem Fichtenbett zu liegen, und plötzlich schien alles andere unwichtig zu sein.
Sal ⢠tant
»Nicht noch einen, Weaver, verdammt!« schrie die Köchin und schlug mit ihrem Spatel auf den Arbeitstisch.
»Tut mir leid«, sagte Weaver und bückte sich, um die Scherben des Tellers aufzuheben, den er gerade zerbrochen hatte. Den zweiten an diesem Morgen. AuÃerdem hatte er ein Glas zerschlagen.
»Nein, das tut dir nicht leid. Nicht im geringsten«, sagte die Köchin. »Aber es wird dir noch leid tun. Wenn du noch mal was zerbrichst, wirdâs dir von deinem Lohn abgezogen. Mir reichtâs jetzt mit dir. Geh in den Keller und hol ein paar neue Teller rauf. Und wag nicht, sie fallen zu lassen.«
Bill, der Tellerwäscher, hatte heute seinen freien Tag. und wir alle vermiÃten ihn ganz schrecklich. Nie hatten wir ihn genügend geschätzt. Nie war uns aufgefallen, wie ruhig und ausgeglichen er seine Arbeit verrichtete. Heute morgen allerdings schon, nachdem die Köchin Weaver â dessen Gesicht immer noch mitgenommen aussah wie ein angestoÃenes Stück Obst â zum Spülen abkommandiert hatte, und Weaver alles andere als ruhig und ausgeglichen war. Er
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