Das Licht des Orakels
schöne.
Bryn war viel zu müde, um vor Staunen aufzuschreien, als der Tempel des Orakels in Sicht kam. Fast den ganzen Tag war die Straße angestiegen, bis in der Ferne Berge zu sehen waren und die Luft etwas kühler wurde.
Zuerst dachte Bryn, sie würde träumen, denn es war doch wohl unmöglich, dass ein einzelnes Gebäude größer als das ganze Dorf Uste war.
Streng blickende Wachen mit rotgoldenen Abzeichen dirigierten die Reisenden durch ein schmiedeeisernes Tor in einer breiten, hohen Mauer. Rotgoldene Banner flatterten auf den Türmen des Tempels, Türme, die höher waren als die mächtigsten Bäume zu Hause. Als Tochter eines Steinhauers bewunderte sie das Mauerwerk des Tempels. Sie hatte ihren Vater über solche Maurer sprechen hören, die so geschickt waren, Mauern wie diese zu errichten – mit Kanten glatt wie Glas und mit so fein gemischtem Mörtel, dass er wie eine kunstvolle Ergänzung des Steins wirkte. Marmortreppen, breit genug für fünfzig Menschen nebeneinander, führten zu großen Türen, deren Messingbeschläge sich um das in Silber eingelegte göttliche Zeichen rankten. Der große silberne Knoten war fein gearbeitet, doch er sah stark genug aus, um die ganze Welt zu umschlingen.
Zusammen mit den anderen stieg Bryn vor den großen Stallungen vom Pferd. Durstig machte sie einen ersten Schritt auf den Tempel zu, doch da legte sich eine schwere Hand auf ihre Schulter. »Komm hier lang«, sagte Nirene scharf und wies Clea und Bryn einen Weg, der von der breiten Treppe wegführte.
»Wohin gehen wir denn jetzt?«, fragte Clea gereizt.
»Königliche Abstammung hin oder her«, fuhr Nirene sie an. »Ich sage es dir nur einmal, Clea: Wenn irgendjemand hier im Tempel, ob Priester, Wache oder die Sendrata der Helferinnen, dir, einer Schülerin, eine Anweisung gibt, dann tu, was man dir sagt!« Mit wütendem Blick musterte sie die beiden Mädchen.
Müde und angewidert nickte Bryn. Gleichzeitig war sie erleichtert, dass sie nicht gerade jetzt die große Treppe emporsteigen musste. Auch Clea nickte, wenn auch sichtlich verärgert, und Nirene führte sie um eine Ecke des Tempels, an der Mauer entlang und um die nächste Ecke, wo Soldaten eine mit Eisen beschlagene Tür bewachten. Nirene grüßte die Soldaten mit einem Nicken, öffnete die Tür und schob Bryn und Clea in eine große, von Fackeln erleuchtete Halle.
4
Von allen Helferinnen im Tempel des Orakels war Dawn die größte. Der Tag begann schlecht für sie, und sie glaubte, ihre Größe wäre daran schuld. Zweimal hatte sie sich schon das Schienbein am Bett angestoßen, und fast hätte sie auch den Waschtisch umgeworfen, als sie sich wusch. Sie war extra vor dem Ertönen des Gongs aufgestanden, um etwas mehr Zeit zu haben. Mit siebzehn sollte es eigentlich genug sein mit dem Wachsen, auch bei ihr. Ihre Schulkleidung wurde ihr schon wieder zu klein.
Sie eilte zurück in den lang gestreckten Raum, den sie mit Dutzenden anderer Helferinnen teilte. Sie wollte ihr Bett machen, ihren Tisch aufräumen und ihren Vorhang so ordentlich aufziehen, wie es Vorschrift war, und das alles, bevor der Gong ertönte und die anderen weckte.
Als sie mit den steifen Falten des schweren beigen Vorhangs hantierte, der ihr Bett auf beiden Seiten von denen der anderen Helferinnen trennte, kam Nirene auf sie zu. Dawn seufzte, da sie erwartete, für irgendetwas getadelt zu werden, doch die Sendrata der Helferinnen bedeutete ihr, sich auf das zerwühlte Bett zu setzen, und verkündete ohne Umschweife, dass es nun an der Zeit für sie sei, eine Duenna zu werden. Duennas kümmerten sich während des ersten Jahrs um die neuen Helferinnen des Tempels, wiesen sie ein und halfen ihnen beim Lernen.
»Oh!«, rief Dawn aufgeregt und überrascht. Sie hatte gut gelernt und daher nur wenig Schwierigkeiten gehabt, aber sie war noch nicht vom Vogel erwählt und würde es vielleicht auch nie sein.
»Hör bloß auf so rumzukreischen«, sagte Nirene sichtlich gereizt und runzelte die Stirn.
»Ich werde die Beste von deinen Duennas sein,
Sendrata«, flüsterte Dawn inbrünstig. »Aber welche Helferin soll ich denn betreuen? Gestern Abend hast du zwei hergebracht.« Dawn hoffte, dass ihr das zerlumpte Bauernmädchen zugewiesen würde, das bei seiner Ankunft so erschöpft gewesen war, dass es sofort auf das ihm zugewiesene Bett gefallen war. Nirene selbst hatte mit gereizt geschürzten Lippen den Vorhang um das schlafende Mädchen zugezogen. Die andere neue Helferin, die
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