Das Licht des Orakels
Wandleuchten spiegelte sich im Boden des Gangs, als sie vom Saal der Helferinnen zu Nirenes Arbeitszimmer eilten. Alyce klopfte an die glänzende Tür und Nirene rief sie herein.
»Setzt euch.« Die Sendrata achtete kaum auf ihre Verbeugungen, sondern wies gleich mit der Hand zu den Stühlen. »Ich muss den neuen Helferinnen Aufgaben zuteilen. Sagt mir, wozu sie sich eignen.«
Alyce ließ sich auf den Stuhl fallen. »Die Latrinen sauber machen«, murmelte sie düster.
»Jetzt komm schon. Das gibt es nur als Strafe.« Nirene runzelte die Stirn. »Hat Clea gegen die Vorschriften verstoßen?«
»Sie behandelt mich ständig von oben herab, aber dagegen gibt es wohl keine Vorschrift, oder?«, antwortete Alyce.
»Achte auf deine Worte, Alyce, oder du putzt selber die Latrinen. Zu welcher Arbeit ist sie geeignet?«
Alyce fingerte an ihrem blonden Zopf herum. »Sie hält sich für eine große Leserin.«
Nirene nickte. »Ich werde sie in die Bibliothek stecken.« Missmutig wandte sie sich Dawn zu. »Und Bryn?«
»Aber ich habe doch gerade erst ihre Sternenkarte fertig gezeichnet, Sendrata …«
»Die Sterne sind egal.«
»Aber du hast doch gewollt, dass …«
»Du hast den Tag mit ihr verbracht.« Nirene machte eine ungeduldige Handbewegung. »Wofür ist sie geeignet?« Etwas durcheinander gebracht, versuchte Dawn, sich den Tag mit Bryn in Erinnerung zu rufen. Hundert Fragen hatte das Mädchen gestellt. Sie war viel mehr an dem Gelände als an den Unterrichtsräumen interessiert gewesen. Sie hatte ihr Gewand waschen müssen, weil so viel Schmutz daran klebte, ganz zu schweigen von Jacks Pfotenabdrücken.
»Wenn dir nichts einfällt, Dawn«, unterbrach Nirene ihre Überlegungen, »dann weise ich sie …«
»Kiran!«, rief Dawn. Dann fasste sie sich wieder und sprach ruhig weiter. »Bryn könnte Kiran helfen, sich um die Pferde zu kümmern. Zu Hause in ihrem Dorf hat sie sie manchmal gezähmt.« Sie schluckte und hoffte, Nirene würde nicht herausbekommen, dass Bryn nichts davon gesagt hatte, irgendwann einmal Pferde gezähmt zu haben. Aber Ellerth, Göttin der Erde und ihrer Bewohner, steht ganz deutlich in ihrer Sternenkarte. Bestimmt kann sie gut mit Tieren umgehen. Und der junge Hengst hat sie geradezu geliebt.
»Du meinst also, sie soll Kiran in den Ställen helfen?«
Es war Nirene anzusehen, dass sie Zweifel hatte. »Das Mädchen benimmt sich erschreckend unbeholfen, und einem Rüpel wie Kiran zu helfen, wird ihre Manieren kaum verbessern.«
Dawn sagte nichts, denn sie befürchtete, wenn sie auf ihrer Meinung beharrte, würde Bryn schließlich noch mit Clea oder Eloise zusammen arbeiten müssen.
Nirene trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Clea bekommt ihre Aufgaben in der Bibliothek und Bryn soll Kiran in den Ställen helfen, wenn der Sendral der Pferde zustimmt.«
5
Bryn folgte Dawn durch kühle steinerne Gänge zu ihrem ersten Unterricht in den Umgangsformen des Tempels, dem Tempelprotokoll. Sie schlossen sich dem Strom blau gekleideter Helferinnen und Helfer an, die durch die Gänge gingen. Bryns Kleidung, die sie so schön fand, als sie sie bekommen hatte, kam ihr jetzt schrecklich schäbig vor. Viele der Schülerinnen und Schüler trugen Gewänder aus bestickter Seide.
Draußen am See hatte Dawn Bryn am Tag zuvor gesagt, dass Alamar, der den Unterricht im Tempelprotokoll gab, von ihr eine korrekte Verbeugung erwarten würde, wenn sie ihn begrüßte. »Zeig mir, wie du dich zu einem respektvollen Gruß verbeugst«, hatte sie sie aufgefordert.
Widerstrebend hatte Bryn den Blick von den Riffelwellen auf der Wasseroberfläche und den springenden Fischen gewandt. Sie verbeugte sich, wie es Dai ihr beigebracht hatte, aus der Hüfte heraus, mit gesenktem Blick und leicht aneinander gelegten Händen.
Dawn hatte missbilligend mit der Zunge geschnalzt.
»Draußen mag das durchgehen, aber nicht hier im Tempel. Du verbeugst dich nicht lange genug. Und wenn du hoffst, im Tempel Wissen zu erlangen, lege die Daumen in die Handfläche.« Sie hatte die Daumenknöchel gebogen und die Daumen selbst nach innen zeigen lassen.
»Und ziehe die Zehen ein, um zu zeigen, dass du einen niedrigen Rang hast.«
Sie hatten so lange geübt, bis Dawn zufrieden war.
Nun würde die Verbeugung einer eingehenden Prüfung unterzogen.
Im Unterrichtsraum blieben Dawn und sie im Hintergrund. Alyce und Clea verbeugten sich vor dem Priesterlehrer, einem dünnen, vertrocknet
Weitere Kostenlose Bücher