Das Licht des Orakels
Krankenabteilung roch nach Lavendel. Gestärkte Laken knisterten, als Bryn erwachte, und die Vorhänge an den Fenstern wirkten wie steife Schleier. Emma, die Apothekerin des Tempels, untersuchte sie von oben bis unten, besah sich ihre Zunge und bestand dann darauf, dass Bryn an dem Tag im Bett blieb. »Und die Nacht bleibst du auch noch hier.«
»Kann ich meiner Duenna eine Nachricht schicken?«, fragte Bryn, die sich um Dawn Gedanken machte.
»Nein, meine Liebe. Die Sendrata der Helferinnen weiß, dass du krank bist, und mehr braucht niemand zu erfahren. Der Meisterpriester hat angeordnet, dass du mit niemandem ein Wort darüber wechseln darfst, was während der Nacht passiert ist – mit niemandem außer ihm selbst.« Emmas braune Augen glitzerten neugierig.
Bryn zupfte an ihrem Betttuch. »Was wird er mit mir machen?«
»Nichts, mein Kind, wenn du seinen Anweisungen
folgst. Da du noch neu im Tempel bist, muss ich dich wohl daran erinnern, dass die Anweisungen des Meisterpriesters immer zu befolgen sind!« Sie zuckte mit ihren rundlichen Schultern. »Was immer du getan hast, er hat dir vergeben.«
Bryn nickte und ließ sich auf das Kissen zurücksinken, aber eine bedrückende Unruhe quälte sie. Bestimmt hatte sie gegen viele Regeln verstoßen, so wichtige Regeln, dass sie vielleicht noch niemals vorher verletzt worden waren. Würde ihr der Meisterpriester wirklich vergeben?
Am nächsten Morgen durfte sie die Krankenabteilung verlassen. Sie hoffte, unbemerkt in den Saal der Helferinnen schlüpfen zu können, doch gerade, als sie dort hinkam, strömten die Mädchen heraus, allen voran Eloise und Clea.
»Iiih, seht mal!«, rief Clea mit einem erstaunten Ausdruck und zeigte auf Bryn. »Eine Ratte im Nachthemd!«
»Iiih!«, gab Bryn zurück und zeigte auf Clea. »Ein sprechendes Stinktier, in der Tracht der Helferinnen.«
Eloise zog die Augenbrauen hoch. »Ratten sollte man ausrotten.«
Sie rauschten an Bryn vorbei. Charis, vom Kolibri, und Narda, von der Krähe erwählt, folgten ihnen auf den Fersen und kicherten laut.
Bryn drängte sich durch die Tür und eilte zu Dawns Vorhangnische. Dawn, die müde aussah, machte gerade ihr Bett. Sie blickte auf und sah Bryn mit gerunzelter Stirn an. Ihr schwarzer Zopf hing ihr über die Schulter.
»Hättest du mir nicht sagen können, dass du dich schlecht fühlst?« Sie zupfte an der Decke, ihre Handgelenke staken aus den Ärmeln hervor. »Jetzt muss ich die Latrinen bis zur Wintersonnenwende schrubben, weil ich so einen Wirbel gemacht habe, als du verschwunden warst.«
»Das tut mir so Leid, Dawn, bitte glaube mir. Ich helfe dir auch, jeden Tag, bestimmt, wenn du mich nur weckst.«
Dawn packte ihr Kissen und schmiss es nach Bryn.
»Los, zieh dich an, sonst verpassen wir das Frühstück.
Ich hab Hunger.«
Als Bryn zu Kiran ging, um ihre Arbeit zu machen, begrüßte Jack sie begeistert, bevor sie überhaupt in die Nähe der Tür kam, sprang an ihr hoch und legte seine Pfoten auf ihre Schultern. Obsidian, der schwarze Hengst, den sie an ihrem ersten Tag im Tempel kennen gelernt hatte, wieherte ihr zur Begrüßung vom Weidezaun aus zu. Obsidian hatte sie ihn nach dem schimmernden Gesteinsglas genannt, das in der Tiefe der Erde entstand.
Im Stall packte Kiran gerade einen fünfzig Pfund schweren Sack mit Hafer und hob ihn mit solcher Leichtigkeit hoch, als wäre er mit Daunen gefüllt. Dann stellte er ihn ein Stück weiter wieder auf den Boden, schnitt ihn mit seinem Messer auf und fragte Bryn, warum sie am Tag zuvor nicht gekommen war, um ihm zu helfen.
»Das ging nicht«, sagte sie. »Ich war beim Meisterpriester und der Ersten Priesterin.«
Auf einen Rechen gestützt blickte er sie an. »Was haben sie von dir gewollt?«
Bryn zögerte. »Sie haben befohlen, es geheim zu halten.«
Mit seinen zimtfarbenen Augen blickte er ihr ins Gesicht. »Ich würde deine Geheimnisse ebenso wenig verraten wie Jack.« Er nahm einen Futtereimer auf.
Bryn glaubte ihm. Sie hatte gelernt, sich auf das zu verlassen, was er sagte. Wenn er meinte, er würde einen unruhigen Hengst von der Weide holen, war das schon so gut wie getan. Wenn er versprach, bis zum nächsten Tag eine neue Pferdebürste zu machen, drückte er sie ihr am nächsten Morgen in die Hand.
Sie wollte ihm von der magischen Nacht und dem anschließenden erschreckenden Vormittag erzählen, sie wollte diese vielen verwirrenden Ereignisse nicht für sich behalten.
Also dann.
In abgehackten, atemlosen Sätzen
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