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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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erzählte sie ihm alles: vom Auftauchen der Distelwolle an ihrem Bett bis zu den Träumen, die sie hatte, als sie in der Kammer des Orakels schlief.
    Als sie Morlens Tod beschrieb, hob Kiran eine Augenbraue. »Hast du gesehen, wie es passiert ist?«, fragte er.
    »Nein, aber ich habe eine Stimme gehört, die sagte, er würde sterben. Es war ein sehr eindringlicher Traum.«
    »Das war nicht einfach nur ein Traum«, sagte er leise.
    »Das war eine Vision, und die Stimme, die du gehört hast, war die Stimme des Orakels.«
    Meinte er eine Prophezeiung? Unruhig scharrte Bryn mit dem Fuß durch das Stroh und erinnerte sich daran, was während des Besuchs der Königin passiert war. Hüte dich vor seinem schlafenden Tod. Sie hatte diese unverständlichen Worte verdrängt. Was konnten sie bloß bedeuten?
    »Der Meisterpriester wollte, dass ich ihm alle meine
    … Träume erzähle.«
    »Natürlich wollte er das. Die Visionen sind das, womit der Tempel Handel treibt.« Seine Stimme klang bitter.
    »Hast du ihm gesagt, was du gesehen hast?«
    »Das mit Morlens Tod schon«, sagte Bryn. »Aber auf unserer Reise zum Tempel ist was passiert … etwas, weshalb ich ihm den anderen Traum, den ich hatte, nicht anvertraut habe.«
    Sie erzählte ihm von dem Mädchen am Rand der Straße in der Wüste, das Renchald angeschrien und um Wasser gefleht hatte.
    Kiran beugte sich zu ihr vor und begann sie eindringlich zu befragen. Als sie alles beantwortet hatte, war er blass und seine Sommersprossen stachen dunkel hervor.
    »Das kann nur Selid gewesen sein«, sagte er.
    »Selid?«
    »Erwählt vom roten Kardinal. Eine so begnadete Prophetin, dass Renchald und die Erste Priesterin vollkommen begeistert waren. Aber es kam heraus, dass sie einige ihrer Visionen für sich behalten hat. Hier im Tempel wird so was als Verbrechen angesehen. Eines Tages war sie verschwunden und kein Mensch hat sie mehr erwähnt.« Einen Augenblick lang schloss er die Augen.
    »Ich bin froh, dass du ihr Wasser gegeben hast.« Er schüttelte den Kopf. »Hoffentlich hat sie überlebt.«
    Bryn nickte eifrig. »Wenn diese Träume Prophezeiungen sind, dann lebt sie. Ich hab sie gesehen.« Sie beschrieb, wie Selid am Pult saß und schrieb.
    Er sah sie eindringlich an. »Sie hat zu dir gesprochen?«
    »Ja, doch bevor ich fragen konnte, was sie meinte, hat mich die Erste Priesterin geweckt.« Bryn griff nach einem Rechen und ließ ihre Hand am Stiel auf und nieder gleiten. Ein Splitter bohrte sich in ihre Haut. Sie ließ den Rechen fallen und versuchte, den Splitter herauszuziehen. Jack, der im Stall herumgestöbert hatte, kam zu ihr und drückte seinen Kopf an sie.
    Kiran streckte die Hand aus. »Ein Splitter?«
    Sie hielt ihm ihre Handfläche hin. Er hob sie dicht vor sein Gesicht und blies auf die Stelle, die wehtat. Bryn merkte, wie sie weiche Knie bekam. Sie wurde rot und hoffte, dass er zu konzentriert war, um das zu bemerken.
    Geschickt zog er den Splitter heraus und ließ ihn auf den Boden fallen. »Es war richtig von dir, dem Meisterpriester diese Vision nicht zu erzählen«, sagte er finster. »Es kann gut sein, dass Selid gerade eine Prophezeiung geschrieben hat, als du sie gesehen hast. Wenn Renchald erfährt, dass sie lebt und außerhalb des Tempels prophezeit, dann versucht er mit all seiner Macht, sie zur Strecke zu bringen.«
    Erzähl es ihm nicht. Er wird mich finden und töten lassen. Bryn schauderte, und Kiran drückte ihre Hand noch einmal, bevor er sie losließ.
    »Diese leuchtende Distelwolle – du hast gesehen, wie sie sich vor dir herbewegt hat?«
    »Ja.«
    »Wenn du dieses Licht jemals wieder siehst, musst du ihm folgen. Ganz egal, wohin es dich leitet.«
    Bryn bekam eine Gänsehaut auf dem Rücken, die sich bis über die Unterarme ausbreitete. Ich bin froh, Selid nicht an d en Meisterpriester verraten zu haben.
    Doch was war, wenn Renchald erfuhr, dass sie einen Traum verheimlicht hatte, wenn er sie wieder vor sich zitierte und ihr befahl, alles zu offenbaren? Würde er sie zurück nach Uste schicken, wenn sie sich weigerte? Oder noch schlimmer, würde er sie in der Wüste aussetzen, damit sie dort stürbe?
    Erzähl es ihm nicht! Sonst wird sie meine Worte niemals lesen.
    Wieder hörte Bryn das klagende Flüstern in ihrem Kopf.

 
     
Sommer
     
     
8
     
    Am Morgen der Sommersonnenwende, dem Tag der Vogelweihe, wurde Bryn wie gewohnt durch ein Rütteln an der Schulter von Dawn geweckt.
    Sie hatten ausgemacht, noch früher als sonst aufzustehen, damit

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