Das Licht des Orakels
erhob sich noch eine Tribüne, auf der die Erste Priesterin stand.
Hinter dem Ring aus Steinen befand sich auf der westlichen Seite des Kreises ein ebenfalls rot drapiertes Podium mit einer Reihe von Priestern und gegenüber, am östlichen Rand, eines mit Priesterinnen. Die einzige Lücke im Steinkreis war eine schmale Öffnung vor Renchalds Tribüne in der Nähe des Gongs.
Dawn führte Bryn zu den anderen noch nicht vom Vogel erwählten Helferinnen, alle im Alter zwischen dreizehn und siebzehn. Bryn sah Clea in einem Gewand aus Satin, das über und über mit einem Muster aus Federn bestickt war. Der tiefblaue Stoff ließ ihr blondes Haar, das von goldenen Bändern zusammengehalten wurde, besonders schön zur Geltung kommen. Ihr Blick streifte Bryns unansehnliche Kleidung und sie schien nur mühsam eine verächtliche Bemerkung zu unterdrücken. Als sie Dawns ungewöhnliche Frisur sah, lächelte sie hämisch.
Die Gruppengebete begannen, angeführt vom Meisterpriester. Sie schienen endlos zu dauern, denn jeder Gott musste gebeten werden, die Feierlichkeit zu segnen.
Als schließlich alle sieben Gottheiten angefleht worden waren, stand die Sonne um einige Grade höher.
Renchald hob die Arme und es wurde still.
»Wir haben uns hier im Angesicht der Götter zur feierlichen Vogelweihe versammelt«, rief der Meisterpriester aus. »Wir beugen uns dem Willen der Götter und harren der Wahl, die sie treffen werden.« Er nickte dem Priester zu, der neben dem Gong stand. Der Mann hob einen wattierten goldenen Stab und schlug den Gong dreimal. Ein tiefer Ton hallte über den Steinkreis.
Die Helfer stellten sich dem Alter nach in einer Reihe neben dem Gong auf, die ältesten zuerst – die, deren letzte Chance es war, eine Feder zu erhalten.
Marvin, der schon fast achtzehn Jahre alt war, eilte durch die Lücke in den Steinkreis. Der Gong ertönte erneut, als er den Kreis betreten hatte. Er schritt bis in die Mitte und blieb dort ruhig mit ineinander gelegten Händen stehen. Kein Windhauch war zu spüren und seine schwarzen Haare wirkten wie aufgemalt. Eine Minute verstrich.
Bryn suchte den Himmel ab. Noch eine Minute verging und nichts bewegte sich am Himmel. In der Stille schien der Morgen noch heißer zu werden.
Der Gong tönte erneut. Unerwählt verließ Marvin den Kreis.
Zwei weitere junge Männer wiederholten das Ritual.
Kein Vogel ließ sich blicken. Bryn überlegte, was wohl passieren würde, wenn sich ein ganz normales Huhn aus Versehen in den Kreis verirrte. Bei der Vorstellung wäre sie fast in Gelächter ausgebrochen. Aber das hätte große Schande über sie gebracht und schnell schlug sie die Hand vor den Mund. Doch dann schritt Kiran am Gong vorbei und zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Er hatte keinen besonderen Wert auf sein Äußeres gelegt. Das verblasste Helfergewand bauschte sich um seine Schultern, das struppige Haar stieß auf den Kragen. Er legte seine großen Hände zusammen.
Eine Minute verging. Kiran schien unbekümmert. Er hätte ebenso gut in der Stalltür stehen und nach den Wolken gucken können. Bewegten sich seine Lippen?
Die Erste Priesterin zeigte nach Norden, wo ein großer Punkt über den Himmel segelte. Der Punkt wurde zu einem Vogel, der beständig auf den Steinkreis zuflog.
Er sah nicht aus wie ein normaler Schwan. Schwäne waren weiß und hatten einen schwarzen Schnabel. Bei diesem Vogel waren die Federn dunkel, und als er näher kam, konnte Bryn erkennen, dass er einen roten Schnabel hatte. Es war der größte Vogel, den Bryn je gesehen hatte, die Spannweite seiner Flügel war größer als die des Steinadlers. Aber es war kein Adler. Seine Augen blitzten nicht wie die eines Raubvogels, sein Hals war zu elegant, um zu irgendeinem anderen Vogel als dem Schwan zu gehören. Mit schimmerndem, schwarzem Gefieder schwebte er über den Gong hinweg und landete weich auf dem Gras im Kreis.
Der schwarze Schwan! Bryn war nicht überrascht, dass Kiran niederkniete. Mit seinem roten Schnabel zupfte der Schwan sich eine Feder aus, streckte den langen Hals zu Kiran und hielt ihm die schimmernde Kostbarkeit hin. Kiran nahm die Feder des Schwans entgegen und verbeugte sich bis auf den Boden.
Der schwarze Schwan drehte sich um, machte ein paar Schritte auf seinen Schwimmfüßen und schwang sich auf seinen majestätischen Schwingen in die Luft.
Die Vogelweihe faszinierte Dawn. Wer würde erwählt werden und von welchem Vogel? Am meisten aber wunderte sie sich, warum die Götter
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