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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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Entscheidung treffen musste, hatte sie ihn nicht verlassen können.
    Es hätte ihm das Herz gebrochen und ihr ebenfalls.
    »Heute Nacht?«, hatte er gefragt, als sie es ihm erzählt hatte. »Was ist mit der Sonnwendfeier?«
    »Wenn so viele auf der Straße sind, um zu feiern, fallen wir nicht auf. Ich weiß, wie sehr du Solz verehrst, doch Monzapel wird es sein, die uns führt.«
    Lance hatte sie lange mit seinen freundlichen Augen angesehen. Dann hatte er genickt und angefangen, seine Sachen zu packen. Nun verschloss er die Tür, als würden sie nur zu einer Reise aufbrechen, obwohl Selid ihm klar gemacht hatte, dass sie niemals zurückkehren würden.
    »Fällt es dir sehr schwer?«, fragte sie ihn und blickte ihn an.
    Er legte beide Arme um sie und küsste sie. Lance roch immer ein bisschen nach frisch gesägtem Holz, nach einer Mischung aus Pinie und Zeder. »Das wird ein Abenteuer«, sagte er.
    »Ohne mich könntest du den Rest deines Lebens in Frieden verbringen.« Liebevoll streichelte sie seine raue Wange.
    »Das stimmt nicht. Ohne dich würde ich gar nicht spüren, dass ich überhaupt lebe.« Er küsste sie wieder. »Ich bin bereit.« Er wandte sich um und bestieg sein Pferd.
    Selid blickte durch die Dämmerung zu der Fichte und suchte den Kardinal. Pfeifend ging sie durch den Garten, doch der Vogel erschien nicht.
    Sie ritten durch das Hoftor, und Lance stieg wieder ab, um es hinter ihnen zu schließen. Monzapel beleuchtete ihren Weg, als sie hinaus in die Kälte ritten.
    Und etwas Rotes sauste durch die Luft und landete auf Selids Schulter.

 
13
     
    Am Tag nach dem Sonnwendfest schleppte sich Bryn auf die Weide neben dem See des Tempels, dort, wo sie die Distelwolle zum letzten Mal gesehen hatte. Zusammengekrümmt saß sie da und blickte auf das Wasser, dessen Oberfläche gefroren und fest war wie der Fluch, der über ihr lag. Welke Gräser und Kräuter umgaben sie und eine frei stehende Lärche schien mit ihren kahlen Ästen am grauen Himmel zu kratzen.
    Eine pelzige Schnauze drückte sich an sie. »Jack«, sagte sie. Der Hund winselte leise und legte dann seinen Kopf in ihren Schoß.
    Kiran tauchte auf und setzte sich ihr gegenüber. Er sah verändert aus, seine Haare waren geschnitten. Er zeigte auf Obsidian, der über die Weide galoppierte.
    »Sieh mal, wie er rennt«, sagte er, und dann schreckte er sie auf, indem er hinzufügte: »Mein Vater war ein Trinker, der mich mit in die Gosse gezogen hat, aber er kannte sich mit Pferden besser aus als irgendjemand sonst, und er hat mir beigebracht, was er wusste. Obsidian ist mehr wert als alle anderen Pferde des Tempels zusammen.«
    Bryn wusste nicht, was sie sagen sollte. Zum ersten Mal erzählte Kiran etwas von sich aus der Zeit, bevor er in den Tempel gekommen war. Sie fühlte sich plötzlich verlegen und scheu, genau wie an dem Tag, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war.
    Er wandte sich ihr zu und sah sie mit seinen lebhaften, zimtfarbenen Augen an. »Jack hat dich bemerkt und darauf bestanden, dir zu folgen«, sagte er. »Er hat dich vermisst. Obsidian vermisst dich auch.«
    Und du, Kiran, vermisst du mich auch? Sie streichelte Jacks geflecktes Fell und spürte, wie sie rot wurde.
    Kiran beugte sich zu ihr. »Du warst nicht auf dem Fest. Was ist los?«
    Bryn schluckte und überlegte, dass sie Kiran genauso gut einen Teil der Wahrheit erzählen konnte, den Teil, den alle wissen sollten. »Meine Visionen haben sich schrecklich verdunkelt.« Sie hatte Mühe, es laut auszusprechen, als ob das Aussprechen die Verfluchung endgültig machen würde. »Das Orakel spricht nicht zu mir, und ich glaube, dass es das auch niemals mehr tun wird.«
    Er blickte sie fest an. Überrascht konnte er nicht sein, denn er hatte ja mitbekommen, wie sie im Weissagungsunterricht abgestürzt war. »Warum?«
    Sie wollte es ihm erzählen, aber Cleas Worte kreisten in ihrem Kopf: Ich belege deine Freunde mit tödlichen Flüchen … Glaub bloß nicht, ich würde das nicht tun.
    »Die leuchtende Distelwolle kam zu mir«, sagte Bryn.
    »Ich bin ihr nicht gefolgt.« Ihre Augen brannten.
    »Wohin wollte sie dich führen?«
    »Zu den Schuppen da drüben, glaube ich.« Sie zeigte in Richtung See.
    Kiran blickte von ihr zu Jack. Eine ganze Weile verging, in der sich seine Hände langsam zu Fäusten ballten.
    Als er dann endlich sprach, sagte er das, was Bryn am wenigsten erwartet hätte: »Sie hat dich verflucht!«
    »Was?« Bryn zuckte zusammen und erschreckte Jack damit, der seinen

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