Das Licht des Orakels
glaubte kaum, dass sie das ertragen könnte.
»Der Meisterpriester scheut keine Kosten für das Sonnwendfest«, zwitscherte Alyce munter, »sonst hättest du gar nicht die Möglichkeit, die Truppe zu sehen, Dawn.«
»Na ja, es ist immerhin der Tempel des Orakels«, antwortete Dawn fröhlich. »Die Wintersonnenwende ist von großer Bedeutung für die Götter. Ohne die Sonnenwende würde Solz von der Erde verschwinden. Von morgen an wächst sein Licht wieder. Und wo wäre Ellerth ohne Solz?« Sie wandte sich an Bryn. »Das wird der schönste Abend deines Lebens werden.«
Bryn schüttelte den Kopf. Es tat ihr Leid, Dawn zu enttäuschen. »Ich habe zu lange gezögert, mir ein Kleid von den abgelegten Sachen rauszusuchen. Außerdem fühle ich mich nicht wohl.« Wieder trank sie einen Schluck Tee und verkroch sich hinter ihrer Tasse.
Ihre Freundinnen hörten nicht auf zu protestieren, aber Bryn wollte sich nicht umstimmen lassen.
Kiran kam vom Waschraum der Helfer durch den Flur und schüttelte seine tropfnassen Haare. Brock beeilte sich, ihn einzuholen. »Gehst du zu dem Fest, Stuko?«, fragte er, wobei er Kirans Spitznamen gebrauchte, eine verkürzte Form von Sturkopf.
»Ich komme, Eulengesicht. Wegen der Musik.«
»Wegen der Musik?« Brock trocknete seine lockigen schwarzen Haare beim Laufen mit einem Handtuch. »Ich geh wegen der Mädchen hin.«
Kiran dachte an Bryn und hoffte darauf, mit ihr zu tanzen. Sie tanzte bestimmt so leichtfüßig wie der Wind auf dem Feld. Und er hoffte, das Fest würde sie aufmuntern. Sie wirkte in letzter Zeit immer so müde und trübsinnig. Wenn er sie fragte, was mit ihr los war, antwortete sie ihm nicht. Manchmal kam sie nicht einmal in den Stall, um ihm bei der Arbeit zu helfen.
»Was ziehst du an?«, fragte Brock.
Kiran hob das Bündel, das er in der Hand hielt. »Kleider.«
»Diese Schafschererklamotten, die du bei deiner Scheunenarbeit anhast?«, fragte Brock mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Schafscherer?«
Brock blieb abrupt stehen. »Das ist das Sonnwendfest.
Alle werden in ihren besten Kleidern kommen.«
»Ich habe keine besten Kleider.« Kiran klopfte mit der freien Hand auf das Bündel. »Ich bin jetzt viermal auf dem Fest gewesen, immer in solchen Klamotten.«
Brock musterte ihn mit seinen klugen schwarzen Augen. »Was für ein hoffnungsloser Sturkopf.« Er blickte an seinem eigenen drahtigen Körper runter. »Wenn ich nach meinem Vater käme, würde ich eher aussehen wie du, mehr Bär als Mensch. Aber da dem so nicht ist, habe ich auch nichts, was dir passt.« Er packte Kiran am Arm und zog ihn in den Saal der Helfer. »Warte hier auf mich.«
Kurz darauf kam er mit Jörgen wieder, einem älteren Helfer. »Er sagt, er kann dir Klamotten leihen.«
Kiran zuckte mit den Schultern und folgte Jörgen, der ihn mit einem cremefarbenen Hemd, einer roten Weste und einer schwarzen Hose ausstattete. Dann drängten Brock und Jörgen ihn, sich die Haare schneiden zu lassen.
»Du siehst aus wie ein Tier«, erklärte ihm Brock mit Lachfalten um die Augen, »aber das Fest heute Abend ist für Menschen.«
Zwei Stunden später, nachdem Brock ihn schließlich zum Menschen erklärt hatte, betrat Kiran die große Halle des Tempels.
Hunderte von große Kerzen in kristallenen Wandleuchtern erhellten den Raum, von der hohen Decke hingen Kandelaber mit jeweils fünfzig Kerzen. Das Kristall der Kerzenleuchter vervielfachte die Anzahl der Flammen und ließ den Raum glitzern wie einen riesigen, funkelnden Edelstein. In den Kaminen brannte Feuer. Weiß gedeckte Tische standen aneinander gereiht eine lange Wand entlang, beladen mit Platten voller Speisen und Krügen voller Wein.
Während früherer Feste hatte sich Kiran einen Platz in der Nähe der Troubadoure gesucht und sich eigentlich nur für die Musik interessiert. Er hatte gegessen und getrunken und manchmal getanzt. Er hatte nicht darauf geachtet, was die Leute trugen. Nun fiel ihm auf, dass alle möglichst schön gekleidet waren.
Kiran setzte einen Weg durch die Halle fort und ging auf die Bühne zu, auf der die Troubadoure später stehen würden. Es war einfacher, sich durch den Raum voller Menschen zu bewegen, als er erwartet hatte, doch die Truppe war noch nicht eingetroffen, und so gelangten er und Brock problemlos an die Tische mit den Speisen.
»Was für ein Auftritt!« Brock nahm sich eine Serviette.
»Wieso Auftritt?«, fragte Kiran verwirrt. Er nahm sich Walnüsse, die schon geschält und sauber halbiert
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