Das Licht des Orakels
sagte: »Guten Abend, Kiran.«
Clea. Wie sie ihm so gegenüberstand, musste er daran denken, wie sie ihn an ihrem ersten Tag im Unterricht in Protokoll behandelt hatte. Und seither war jedes Mal, wenn er sich entschuldigend vor Alamar verbeugte, der ihn noch immer nicht von der Strafe befreit hatte, unweigerlich ihr spöttisches Grinsen zu sehen, ein Grinsen, das ihn an ihren Bruder Raynor erinnerte.
Kiran war erst zehn Jahre alt gewesen, als er Raynor begegnet war, aber er hatte es nie vergessen:
Am Straßenrand irgendwo in Rington, der Hauptstadt von Ostland. Ein blonder, jähzorniger Junge schlug ein verängstigtes junges Pferd, weil es verängstigt war. Kiran konnte diesen Anblick nicht ertragen, rannte auf die Straße und schrie: »Aufhören! Du musst aufhören!«, und legte eine Hand auf den Arm des Jungen.
Der Junge hatte Kirans Hand abgeschüttelt und ihn zu Boden geschleudert, unter die Hufe des wild gewordenen Tieres. Dann hatte er das Pferd weiter geschlagen und über Kirans verzweifelte Versuche, davonzukriechen, gelacht.
Ein Wunder, dass ich an diesem Tag unverletzt blieb.
Erst später erfuhr Kiran, dass es Raynor Errington war, der ihn aus einer Laune heraus beinahe umgebracht hätte. Seine eigene Angst hätte er ihm noch vergeben können, doch nicht die Grausamkeit einem Pferd gegenüber. Und die Zeit hatte seine schlechte Meinung von dem jungen Errington nicht gemildert. Zumal er nichts gesehen oder gehört hatte, was seine Meinung über Raynor hätte ändern können. Es waren viele Gerüchte über den rücksichtslosen und launischen jungen Lord im Umlauf.
Natürlich wusste Kiran, dass eine Schwester nicht so sein musste wie ihr Bruder. Er verurteilte Clea nicht, weil sie mit Raynor verwandt war. Doch er hatte mitbekommen, wie gnadenlos Clea Bryn verhöhnte, und scheinbar hatte sie auch Spaß daran, andere der Federn anzustacheln, es ihr gleichzutun.
Und nun stand sie in der großen Halle des Tempels vor ihm und lächelte ihn an. Ihr Kleid schimmerte rosa wie das Innere einer Muschel, eine goldene Kette, einer Prinzessin würdig, lag um ihren Hals, und die Hand, die sie auf seine Brust legte, funkelte von Ringen. »Warum tanzt du nicht?«, fragte sie.
Kiran blickte ihr in die Augen, die so blau strahlten wie Kornblumen in der Sonne. Ihr selbstgefälliger Ausdruck gefiel ihm nicht. Sie schien zu glauben, er hätte nur auf die Erlaubnis gewartet, ihr seine Verehrung zeigen zu dürfen. Mit spitzen Fingern, als würde er Jack eine Klette aus dem Fell zupfen, nahm er ihre Hand von seiner Brust.
»Ich wollte gerade tanzen.« Er wandte sich Dawn zu, die in ihrem zu kurzen Kleid steif neben ihm stand, und ergriff ihre Hand. »Mit Dawn.«
Cleas schöner Mund wirkte plötzlich verkniffen. Sie drehte sich so schnell um, dass sie Eloise, die neben ihr stand, mit dem Ellbogen anstieß. Diese verzog den Mund, aber Clea rauschte nur davon und überließ es ihrer Freundin, sie einzuholen.
Dawn strahlte. »Ich warne dich«, sagte sie Kiran ins Ohr.
»Ich tanze nicht besonders gut.«
»Wir werden es überleben«, meinte Kiran.
Und der Troubadour sang.
Ich bin geboren in einem Land – so nah und doch sofern zu nah, es zu verlassen, zu fern, es wiederzufinden.
Ich wandre umher mit Kummer im Herzen -
Wandere hier zwischen dem Jetzt und dem Dann.
Kiran und Dawn tanzten mit mehr Entschlossenheit als Geschick, aber sie schafften es.
Niemand weiß, wo ich schon gewesen –
und fragtest du, so bliebe ich still.
Ich wandre umher mit Kummer im Herzen –
Doch hören kannst du nur mein Lied.
Für den Rest des Abends blieb Kiran ein gefragter Tanzpartner. Jedes Mal, wenn er mit einem Tanz fertig war, stand eine andere Helferin vor ihm und lächelte ihn erwartungsvoll an. Er gab sich Mühe, sich in die Musik zu verlieren, doch das war nicht so einfach wie in den vergangenen Jahren.
Am selben Abend hob Selid vor ihrem Haus in Bewel eine Laterne hoch, um die Satteltaschen ihres Pferds zu kontrollieren. Wehmütig blickte sie ein letztes Mal zu dem Haus, in dem ihre Ehe mit Lance begonnen hatte.
In einer Vision hatte sie Renchald auf sich zu stürmen sehen, den Ring der Götter wie eine Waffe erhoben, und neben ihm mit gezücktem Dolch Bolivar.
Sie musste Bewel sofort verlassen.
Neben ihr zog Lance seinen Sattelgurt fest. Sie hatte schwer mit sich gerungen, um ihren Mann allein zurückzulassen. Sie wollte es nicht riskieren, ihn der Gefahr auszusetzen, die sie verfolgte. Doch als sie die
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