Das Licht des Orakels
hervorholte. Er schnappte sich Cleas Hand und drückte ihr die aufgewickelte Schnur hinein. »Das gehört euch.« Er wischte sich die Hände am Hemd ab.
Clea betrachtete die zusammengerollte Seide. »Was meinst du damit?«, fragte sie und riss unschuldig die Augen auf. »Mach mir nichts vor«, sagte Kiran und seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Sie zuckte leicht mit den Schultern, als wäre ihr das alles völlig unverständlich, und drehte sich anmutig mit einem Wirbeln ihres Seidenenkleides um. Sie hakte sich bei Eloise ein und beide marschierten davon, die anderen Federn hinterher.
Kiran starrte ihnen nach, bis sie hinter einer Anhöhe verschwunden waren.
Brock schlug Kiran leicht auf den Rücken und ließ sich wieder auf die Decke plumpsen. »Nimm dir ein Marmeladentörtchen, Stuko.«
Kirans Wut legte sich allmählich. Er setzte sich wieder zu seinen Freunden und nahm sich ein Törtchen. »Auf die Rüpelhaftigkeit!«, sagte er.
Jenseits der Lydenwüste winkte Selid Lance zu, als er durch das Tor ihres neuen Hauses in Tunise auf die Straße eilte. Er nannte sich nun Glenn, hatte sich der Schreinerzunft angeschlossen und so viel Arbeit angeboten bekommen, wie er brauchte. In den neuen Bezirken schossen die Häuser nur so aus dem Boden, in den älteren standen Ausbesserungsarbeiten an.
Selid nannte sich nun Lorena. Sie arbeitete wieder als Schreiberin, doch sie war vorsichtig und schrieb nur für die Armen. Sie bot ihre Dienste im Tausch gegen alles an, was die Leute zu bieten hatten: ein paar Hände voll Linsen, eine Kartoffel oder ein Ei vielleicht, aber meistens half sie aus reiner Gutmütigkeit.
Selid ging in ihr Arbeitszimmer. Mitten im Raum blieb sie stehen und sog den Duft von Zedern und Pinien ein. Dieses Haus tat ihrer Seele gut, als sei es nicht nur aus Holz gebaut worden, sondern aus Lances Liebe. Er hatte ihr ein Pult geschreinert und an der Wand sogar einen Fries aus Eiche, Mahagoni und
Ahorn eingelegt.
Selid nahm sich Tinte, Feder und Pergament. Sie band sich ein abgetragenes Tuch um den Kopf und brach in den verarmten Bezirk auf, der »Die Schmuddelgassen«
genannt wurde. Ihr Ziel war eine Imbissstube, wo sie Briefe für die Armen, die keine Schule besucht hatten, vorlas oder schrieb.
Der Besitzer der Imbissstube hatte sich Sir Chance, den Wohltäter der Unglücklichen, genannt und seine Imbissstube Zum kleinen Glück. Seinen gewaltigen Umfang nutzte Sir Chance, um gute Laune zu verbreiten, und seine kräftigen Arme, um Ordnung zu schaffen. Er hatte ständig einen Kessel mit warmer Suppe auf dem Herd stehen und teilte sie großzügig all denen aus, die den geringen Betrag, den er dafür verlangte, aufbringen konnten. Ständig füllte er den Kessel mit undefinierbaren Schnipseln auf, rührte um und schmeckte die Suppe dann mit Prisen aus seinen Gewürzfässchen ab. In Bottichen kochte er starken Tee, den er in großen, dampfenden Bechern zusammen mit Brötchen von der Größe eines Tellers servierte.
»Lorena!«, rief er ehrlich erfreut, als Selid hereinkam.
»Hast du Hunger?«
Sie machte sich nicht mehr die Mühe nein zu sagen, denn er würde ihr doch etwas aufdrängen, ob sie hungrig war oder nicht. Still ließ sie es über sich ergehen, mit Suppe, Tee und Brötchen voll gestopft zu werden.
»Ginette!«, schrie Chance und zeigte mit einem fleischigen Finger auf sie. »Die Schreiberin ist da!«
Eine Frau kam an Selids Tisch. Trotz ihrer grauen Haare wirkte sie wie ein erwartungsfrohes Kind. Sie fummelte in den Falten ihres zerschlissenen Rocks und zog ein Pergament hervor. »Von meinem Sohn, aus der Hauptstadt der Königin«, sagte sie und schob es Selid zu.
»Und du möchtest, dass ich es dir vorlese?«
»Bitte!« Ihre Lippen bebten ein bisschen vor Vorfreude.
Selid strich über das zerknitterte Blatt und las laut:
Meine liebe Mutter,
ich habe einen Schreiber gefunden, der dir schreiben kann, und so kommen hier meine Nachrichten aus Zornowel, der Hauptstadt. Ich bin bei deinem Bruder, dem Stoffhändler, angekommen. Wir erledigen jeden Tag Aufträge, jede Art von Vorhängen. Du hättest dein Vergnügen daran, den Brokat und die Seide zu berühren. Wir haben einen Auftrag vom Leibarzt der Königin für Bettvorhänge …
Selid unterbrach sich. Ihre Stirn tat weh, und sie sah, wie ein verräterisches Lichtspiel das Pergament in ihren Händen verschwimmen ließ. Sie ließ es fallen, als würde es ihre Finger verbrennen. Nein!
Als Lance und sie in Tunise angekommen
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