Das Licht des Orakels
fragte er sich, wie es wohl wäre, nur noch als Nachklang dessen zu leben, der man einmal war, sich durch den Tag zu bewegen und den Wind in den Bäumen und auf den Wegen zu sehen, aber selbst niemals den geringsten Hauch zu verspüren.
»Der Wind berührt dich nicht«, sagte er.
Plötzlich sah sie so verlassen aus, dass er nicht mehr gegen das Verlangen, sie in die Arme zu nehmen, ankämpfen konnte. Einen Augenblick lang schmiegte sich Bryn seufzend an ihn, dann entzog sie sich ihm wieder.
Kiran nahm eine ihrer schlanken Hände. »Es muss einen Weg geben, den Fluch aufzuheben«, sagte er.
»Vielleicht.« Sie klang hoffnungslos und ihre goldbraunen Augen blickten traurig.
Ich finde eine Möglichkeit!, schwor sich Kiran, doch er sprach es nicht laut aus. Und während er an Clea und ihre Allüren, ihr spöttisches Grinsen und falsches Lächeln dachte, fühlte er eine so heiße Wut in sich aufsteigen, dass er glaubte, das Gras zu seinen Füßen müsste eigentlich Feuer fangen.
Am späten Nachmittag desselben Tages wurde Kiran in das Allerheiligste des Meisterpriesters beordert. Dort sah er aus dem Fenster auf den Sonnenuntergang, der den ganzen Himmel in Brand zu setzen schien. Blassrotes Licht lag auf den schweren Vorhängen und trübte die Farbe der Kordeln, die sie hielten, breitete sich über die
Kleidung des Meisterpriesters aus und ließ das Gold der Stickereien an Kragen und Manschetten verwaschen wirken.
Diesmal wurde Kiran aufgefordert sich zu setzen.
»Es wird Zeit, dass du deinen rechtmäßigen Platz im Tempel einnimmst«, sagte der Meisterpriester.
»Meinen rechtmäßigen Platz?«
»Kiran, du bist ein Prophet des schwarzen Schwans.
Ich möchte dich in der Technik der paarweisen Prophezeiung ausbilden.«
Kiran spannte sich an. Die paarweise Prophezeiung war eine so geheime Technik, dass er nur Gerüchte darüber gehört hatte. Durch die wachsenden Schatten schien sich Renchalds schmales Gesicht in das eines Falken zu verwandeln. »Du bist ein begnadeter Prophet, Kiran, doch das verbirgst du gut. Der Tempel braucht dich. In etwa zehn Jahren wird deine prophetische Kraft nachlassen. Durch die Paarung mit einem anderen, dessen Kräfte ebenso auf der Höhe sind, kannst du dich im strahlenden Licht des Orakels baden, kannst nach Belieben durch die Zukunft wandern. Du kannst mühelos dorthin reisen, wo das Orakel meint, dass es dich braucht. Dein Geist wird mit Einsicht erfüllt und tausendmal mächtiger werden.«
Mit Einsicht erfüllt! Kiran dachte an Bryn. War Renchald etwa in der Lage, ihm etwas beizubringen, mit dem er ihr helfen konnte? »Was ist paarweise Prophezeiung?«, fragte er vorsichtig.
»Eine Methode, sich mit einer Prophetin zu verbinden.«
»Wie kann ich das lernen?«
»Melde dich bei mir für den Abendunterricht. Einzelunterricht.«
Konnte Kiran Renchalds Anwesenheit ertragen – alleine? Konnte er es durchhalten, vom Meisterpriester zu lernen, beobachtet von der Skulptur eines Geiers und unter dem Wandteppich mit Keldes’ Bild?
»Weil die Techniken der paarweisen Prophezeiung so geheim sind«, fuhr Renchald fort, »verlange ich von dir das heilige Versprechen, das, was du gelernt hast, nicht offen zu legen, und über unsere Treffen nicht zu sprechen. Wenn wir beginnen, musst du dich einverstanden erklären, bis zum Schluss zu allen Unterrichtsstunden zu kommen, die ich für dich anberaume.«
Kiran drehte sich der Kopf. Ich hob geschworen, Bryn zu helfen. Und wenn dies nun meine Chance ist? Er holte tief Luft. Dann nickte er widerstrebend. »Ich bin einverstanden. Ich gebe Euch mein Wort.«
Der Meisterpriester lehnte sich mit undurchdringlichem Gesicht zurück. »Weil der schwarze Schwan der Vogel ist, der dich erwählt hat, bist du außergewöhnlich begabt zu lernen, dich mit einer Prophetin zu verbinden.«
Kiran blickte auf die schwarze Statue des Geiers.
Plötzlich wurde es ihm kalt. »Mit welcher Prophetin?«
»Mit Clea Errington.«
Kiran umklammerte die Armlehnen des Sessels.
»Als ihr Partner in Prophezeiung«, tönte die gnadenlose Stimme des Meisterpriesters weiter, »wirst du Cleas erleuchtete Visionen aus erster Hand kennen lernen, denn du wirst sie auch haben.«
Kiran musste an Bryns Traum von Selid denken. Wenn Clea die Vision auch hatte, hätte der Meisterpriester sofort davon erfahren. Kiran bohrte die Absätze in den Teppich. Clea selbst war ihm gleichgültig. Aber die Vorstellung, seinen Geist mit ihrem zu verbinden, machte ihn rasend. Er
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