Das Licht des Orakels
wenn er das tat, würden die anderen Tänzer um sie herum stolpern und vielleicht sogar stürzen. Dawns Tanz wäre ruiniert und bliebe in ihrer Erinnerung nur so, wie er geendet hatte, nämlich schlecht.
Und so tanzte er weiter.
Endlich hörte die Musik auf. Kiran ließ die Arme fallen und drehte sich unhöflich von Clea weg, scherte sich nicht um eine Verbeugung. Er kämpfte sich durch die Menge und ärgerte sich darüber, dass er sich am Ende des Tanzes auf der anderen Seite der Halle befunden hatte, die am weitesten von Bryn entfernt war.
Die Truppe verkündete, dass es nun Zeit war zu essen und zu trinken, und alle schoben sich durcheinander.
Kiran war froh, dass er so groß war, denn das machte es leichter, sich an den Leuten vorbeizudrängen. Vor ihm war die Wand, an der Bryn stand, mit gesenktem Kopf, wie eine Blume nach dem ersten Frost. Kiran versuchte, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen, aber sie sah nicht auf.
»Kiran, einen Augenblick.« Renchalds volltönende Stimme war Kiran noch nie unwillkommener gewesen, doch er bezwang seinen Ärger und verbeugte sich vor dem Meisterpriester.
»Ich möchte dich jemandem vorstellen«, sagte Renchald. »Lord Errington.«
Erringtons blaue Augen saßen so unter den Augenbrauen, als ob die Götter den idealen Abstand von seinem Nasenrücken abgemessen hätten. Es war unschwer zu erkennen, wem Clea und Raynor ihr Aussehen zu verdanken hatten. Sein blondes Haar, das an den Schläfen grau wurde, reichte bis zu den Schultern. Um seinen Hals lagen mehrere schwere Goldketten und ein großes, mit Juwelen besetztes Medaillon hing auf seiner Brust.
Kiran überkam ein fast überwältigendes Bedürfnis, Lord Erringtons scharf geschnittene Nase zu zerschmettern. Die ersten zwölf Jahre seines Lebens hatte er im Reich dieses Mannes gelebt. Er wusste mehr über Erringtons Habgier, als ihm lieb war. Doch heute wollte Kiran einfach nur so schnell wie möglich durch die Halle zu Bryn gehen, aber stattdessen verbeugte er sich: Schüler ohne Rang verbeugt sich vor reichem Lord.
»Ah, Clea!« Lord Errington streckte einen Arm aus, um Clea zu begrüßen, die Kiran durch die Menge gefolgt war. »Du hast sehr hübsch getanzt, meine Liebe.«
»Ich hatte einen ausgezeichneten Partner«, antwortete sie kokett und lächelte Kiran dabei an.
Ihm war klar, dass nun von ihm erwartet wurde zu sagen, wie bezaubernd es gewesen war, mit Clea zu tanzen, doch er blickte nur an ihr vorbei zur Hallenwand. Bryn konnte er nicht entdecken, dagegen sah er Brock und Willow, Jacinta und Calden und Alyce und Marvin, die sich an der Stelle zusammengefunden hatten, an der Bryn gestanden hatte. Das waren seine Freunde. Bei denen sollte er sein, nicht hier bei den Leuten, die er am wenigsten in der Welt mochte.
Er verbeugte sich: Schüler verabschiedet sich. Er fügte noch eine bestimmte Bewegung hinzu, die ausdrückte, er müsse die Toilette aufsuchen, eine selten ausgeführte, aber immer respektierte Bewegung. Er trat zurück und eilte dann zu seinen Freunden.
Zur Begrüßung schlug ihm Brock auf die Schulter.
»Tut mir Leid, dass dir die Geierprinzessin aufgelauert hat, Stuko.«
Kiran suchte Bryn, konnte sie aber nicht entdecken.
»Unsere Dawn ist die Königin des Abends«, sagte Jacinta stolz. Sie zeigte dorthin, wo Dawn mit Avrohom stand.
Obwohl sie ein völlig ungleiches Paar waren, schienen sie sich blendend zu verstehen und hatten nur Augen füreinander. Noch während Kiran hinsah, fütterte Avrohom Dawn mit einem Stückchen Kuchen, und sie ließ ihn dann einen Schluck Wein aus ihrem Glas trinken.
Kirans Brust schmerzte wieder. »Wo ist Bryn?«
»Vor einem Moment war sie noch da«, antwortete
Alyce. »Sie kommt bestimmt gleich zurück«, versicherte ihm Jacinta.
Bryn saß zusammengekauert in einer Nische des Flurs, der zur großen Halle führte. Die kalten Steine, gegen die sie sich lehnte, waren kein Trost, aber wie hätte sie zurück zum Ball gehen können? Als sie Kiran und Clea beim Tanzen beobachtet hatte, hatte ihr Herz lauter geschlagen als die Schläge des Trommlers. Cleas mit Edelsteinen besetzte Schuhe funkelten. Die Ärmel ihres Gewands schwangen wie Vorhänge aus blutroten Sternen.
Wie schaffte sie es bloß, immer so auszusehen, als hätte sie eigentlich von einem wunderschönen Vogel erwählt werden müssen, von einem Silberreiher zum Beispiel oder vielleicht sogar von einem Schwan?
Kiran hatte sie nicht losgelassen, bis der Tanz zu Ende war. Dann war er auch noch stehen
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