Das Licht des Orakels
Pferd, um durch die Lydenwüste zu kommen.«
Kiran zuckte mit den Schultern. »Das ist meine geringste Sorge. Ich bin schließlich vom Schwan erwählt worden.« Er lächelte angestrengt. »Wenn ich draußen bin, spreche ich das erste Wesen an, das wie ein Pferd aussieht.« Dann richtete er seinen Blick auf Bryn. Jetzt noch das Wichtigste. »Bryn, ich hoffe, du kommst mit mir. Wenn du hier bleibst, wird der Meisterpriester mit Sicherheit einen anderen Propheten ausbilden, um so paarweise Prophezeiungen und Visionen von dir zu erpressen.«
Das Blut stieg ihr in die Wangen. »Mit dir gehen?«
»Du könntest einen Gästeumhang nehmen und dich
durch die Tür bei den Gärten rausschleichen. Dann triffst du Jack und mich an der schadhaften Mauerstelle.«
Bryn biss sich auf die Lippen. Jack kam zu ihr und stupste sie mit der Schnauze an.
»Jack will, dass du mit uns kommst«, sagte Kiran.
»Kommst du?«
Für einige Augenblicke waren sie alle still.
»Also, meine Dame«, meinte Brock dann. »Muss ich dir auf Wiedersehen sagen?«
Bryn stand auf. Kiran konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Freude? Traurigkeit? »Ja«, sagte sie, »ja, sage mir auf Wiedersehen, Brock.«
»Du kommst mit mir?«, fragte Kiran angespannt.
Sie nickte und blickte ihn an, wie sie es früher getan hatte, mit einem Blick voller Vertrauen und unerschütterlicher Freundschaft. »Ich treffe dich nach Sonnenuntergang bei der Mauer.« Sie beugte sich nieder und streichelte Jack, der so breit grinste, dass er alle Zähne zeigte.
»Wir warten dort«, sagte Kiran.
In seiner Vorhangnische im Schlafsaal der Helfer zog Kiran das Schülergewand aus und ersetzte es durch Hemd und Hose. Dieses Gewand würde er niemals mehr anziehen. Er prüfte sein Messer und wünschte sich, er hätte etwas zu essen hinausgeschmuggelt.
Ein Kribbeln ließ seine Nackenhaare sich aufrichten.
Mit dem Gefühl, dass noch jemand im Raum war, wirbelte er herum.
»Brock?«
Keine Antwort, und Kiran wusste plötzlich, wer hinter seinen Vorhang gekommen war. Nicht körperlich, aber mit einem Hauch ihres Bewusstseins, seine frühere Partnerin beim Prophezeien – Clea. Schwarze Wut stieg in ihm auf, als er seine inneren Barrieren verstärkte. Wie lange hatte sie wohl schon die Abanya durchstreift und darauf gewartet, dass seine Wachsamkeit nachließ? Was war, wenn sie wusste, was in seinem Kopf vorging, und
sie ihn an den Meisterpriester verriet? Renchald hatte ihm einmal versprochen, dass Clea nicht in der Lage sein würde, seine Gedanken zu lesen. Doch wenn das stimmte, wieso hatte Kiran dann ihre Gegenwart gespürt?
Er konnte nicht länger warten. Er musste sofort verschwinden.
Er nahm den Umhang vom Haken und eilte zur nächsten Tür nach draußen. Der Eindruck von Cleas Gegenwart hielt an. Er sah sich nach allen Seiten um, aber sie war nirgends zu sehen. Wie froh würde er sein, wenn er sie endgültig los war! Wenn ich erst mal weg bin, komme ich niemals wieder!
Niemals wieder! Niemals wieder!, wiederholte er innerlich bei jedem Schritt. Geschmeidig und leise lief er durch den Flur. Vor ihm flackerten Schatten auf dem polierten Boden, dort, wo Wachen an der Tür postiert waren.
Kiran kniff die Augen zusammen. Normalerweise bewachten ein oder zwei Soldaten diese Tür, nicht fünf dicht nebeneinander, die zusahen, wie er näher kam. Er ging langsamer. Wieder blickte er zurück, aber da war niemand. Kehr um!, schrie ihm sein Verstand zu, aber da war es schon zu spät.
Die fünf Wachen umstellten ihn und ergriffen ihn an den Armen. »Wir haben die Anordnung, dich zum Meisterpriester zu bringen«, sagte einer von ihnen. Es war Finian, den Kiran eigentlich für einen Freund hielt.
Kiran warf sich mit solcher Macht zurück, dass die überraschten Soldaten ihn nicht halten konnten. Blitzartig drehte er sich um und raste den Weg zurück, den er gekommen war, bog um eine Ecke und rannte Hals über Kopf in eine andere Gruppe von Wachen.
Er wartete gar nicht erst ab, bis sie ihn packten, sondern trat dem Nächsten ans Knie und schlug einem anderen die Faust gegen den Kopf. Das Stöhnen und die Flüche, die er hörte, stachelten ihn nur an, noch wilder um sich zu treten und zu schlagen.
Eine Weile lang konnte er sie sich vom Leibe halten, doch dann tauchten ein paar von ihnen nach seinen Beinen und zogen ihm die Füße unter dem Körper weg. Er fiel schwer und rollte sich auf die Seite, doch er bekam sofort einen Schlag mit der Flachseite eines Schwerts gegen den Kopf,
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