Das Licht des Orakels
Frau, die ihr erst Stunden zuvor in ihrem Arbeitszimmer erschienen war, lehnte am Torpfosten. Als Selid sie nun wieder sah, diesmal aus Fleisch und Blut, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. »Du bist es«, flüsterte sie und hielt ihr das Glas Wasser hin.
Bryn hob das Glas an die Lippen. Hinter ihr schnaubte der prächtigste Rappe, der jemals geboren worden war.
Kiran und Bryn bestanden darauf, dass Selid erst Obsidian fütterte und tränkte, bevor sie selbst etwas essen wollten. Kiran sackte auf einer Liege neben dem Kamin zusammen und schlief sofort ein. Bryn hatte Probleme richtig zu sprechen. Sie konnte nur über das Pferd reden. Erst als Selid versprach, sich um den Hengst zu kümmern, willigte Bryn ein, sich die Liege im Arbeitszimmer zeigen zu lassen.
Während sie die Kerze hochhielt, sah Selid, wie der erschöpfte Blick ihrer Besucherin über die Einlegearbeiten aus Holz und das Pult glitt. »Ich hab es niemandem erzählt«, sagte Bryn, »außer Kiran.«
Selid stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das hatte ich gehofft«, antwortete sie leise. »Danke!« Sie blickte Bryn an. »Und danke, dass du mir in der Wüste das Leben gerettet hast.«
Bryn ließ sich auf die Liege fallen. Ihr gemurmelter Dank war schon kaum mehr zu hören, so schnell schlief sie ein.
Selid schloss die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich.
Es war Zeit, das Pferd zu versorgen. Während sie es fütterte und tränkte und sein staubiges Fell bürstete, saß der rote Kardinal auf ihrer Schulter. Mondschein lag wie ein silberner Segen über dem Stall. Wie friedlich die Welt wirkte: In diesem Moment konnte Selid kaum glauben, dass Grausamkeit und Verrat und viele andere Schrecken, die das Orakel vorhersagte, wahr sein konnten.
Und diese Besucher jetzt leiteten das ein, was sie in ihren Prophezeiungen gesehen hatte, alles würde jetzt so geschehen. Sie wusste es, aber sie wünschte, das Wissen über die Wahrheit hätte sie nie überkommen.
Bitte, Monzapel, ich flehe dich an, beschütze Lance!
Nachdem sie wieder in das Haus gegangen war, setzte sich Selid auf die Bettkante und wiegte sich hin und her.
Lance wurde wach. Er setzte sich auf und legte seinen warmen Arm um ihre Schultern.
»Ist es schon Morgen?«, fragte er.
»So ist es«, sagte Selid und nun sprudelte es aus ihr heraus: Was sie gesehen hatte und was sie befürchtete. Und zum Schluss sagte sie: »Und deshalb, mein Liebling, musst du mich jetzt verlassen, musst du mich jetzt vergessen.«
Lance schüttelte den Kopf. »Glaubst du, ich würde jetzt fortgehen? Dich vergessen, weil du Angst hast?«
Seine braunen Augen, die sie immer an das Holz erinnerten, mit dem er arbeitete, blickten sie voll wilder Entschlossenheit an.
»Das ist mehr als Angst, Lance. Ich weiß, dass Keldes meinetwegen kommt.«
»Er ist auch schon früher zu dir gekommen und du lebst noch.«
»Das habe ich Monzapel zu verdanken.«
»Sie wird dir wieder helfen.« Der sonst so sanfte Schreiner sah grimmig aus. »Verlange nicht von mir, dass ich dich verlasse. Ich will mein Leben nicht meiner Feigheit verdanken. Wir gehören zusammen. Wenn Keldes dich jagt, so soll es eben so sein. Ich bin jederzeit bereit, wieder zu fliehen, sofort, wenn es sein muss.«
»Wir können nicht fort, bevor die Gilgamelltruppe auf meine Nachricht geantwortet hat.«
»Dann warten wir eben darauf. Danach brechen wir auf, aber zusammen.«
Am nächsten Tag traten im Tempel Renchald und Clea in die paarweise Prophezeiung ein. Damit brachen sie mit der ehernen Tradition, nach der es verboten war, dass der Meisterpriester mit einer Schülerin oder einem Schüler paarweise prophezeite.
Um die unverschämten Verräter zu finden, die auch noch das wertvollste Pferd des Tempels gestohlen hatten, würde Renchald alles versuchen. Wenn er zuließe, dass Kiran und Bryn frei in Sorana umherschweiften, würden sie dem Tempel ungeahnten Schaden zufügen. Das musste er verhindern. Doch das konnte er nur, wenn er wusste, wohin sie gegangen waren! Die einzige Möglichkeit war, mit Clea paarweise zu prophezeien.
Ihre gemeinsame Suche nach Visionen war ungeheuer erfolgreich. Seine großen Fähigkeiten zusammen mit ihrem Talent zu prophezeien enthüllten nicht nur den Aufenthaltsort der widerspenstigen Schüler, sondern auch Selids Pläne.
Endlich, dachte der Meisterpriester, habe ich eine Prophetin gefunden, die meiner würdig ist. Clea wird ohne weiteren Aufschub Priesterin werden.
Als er an Selid dachte und an die
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