Das Licht des Orakels
er sagte. Doch der Ausdruck in seinen Augen verfolgte Bryn. Er schien in einer Weise verwundet zu sein, die sie nicht sehen konnte, und einen Schmerz zu empfinden, der tiefer saß als die Blutergüsse. Was auch immer es war, er behielt es für sich.
Ein Windhauch küsste Bryns Nase, spielte in ihrem Haar, ließ die Ärmel ihres Gewands flattern und strich durch Obsidians Mähne. Jetzt war der Wind immer bei ihr, manchmal nur leicht wie ein daunenweicher Samen, manchmal als stürmisches Brausen.
Obsidian wieherte laut in dem Moment, als Jack um die Ecke geflitzt kam und wichtigtuerisch bellte.
Bryn ging Jack hinterher, der zum Tor rannte, daran hochsprang und aufgeregt jaulte. Sie erreichte das Tor gerade, als Selid den Riegel zurückschob.
Dawn kam hereingestürzt und umarmte Bryn stürmisch. »Bei allen Sternen und Planeten, ist das schön, dich zu sehen!« Sie wandte sich an Selid. »Wir wollten schon früher hier sein, doch wir mussten noch für die Reise nach Zornowel packen, ganz zu schweigen davon, dass wir uns etwas einfallen lassen mussten, um das Gasthaus zu verlassen, ohne aufzufallen.«
Hinter ihr hielten vier Männer in unscheinbaren Umhängen die Zügel der Pferde. Bryn sah Avrohoms koboldhaftes Grinsen hinter Dawns Schulter auftauchen. Er zwinkerte. »Inkognito – oder wir wären den Bewunderern unserer Musik nie entkommen.«
Selid bat Menschen und Pferde durch das Tor in ihren Hof. Bryn konnte hören, wie sich Obsidian beschwerte, dass er nicht zu den fünf Stuten der Truppe durfte. Sie hoffte, er würde nicht das Stalltor aufbrechen, wie er es in den Tempelstallungen gemacht hatte.
Dawns Fragen prasselten nur so auf Bryn nieder.
»Was ist passiert, nachdem ich weg war? Hat Brock meine Nachricht bekommen? Geht es dir gut?«
Bryn hielt Dawn fest im Arm, beantwortete aber keine einzige ihrer Fragen. Selid führte alle ins Haus, wo Kiran sich mühsam von der Liege aufrappelte. Als Dawn sein Gesicht sah und ihr Mitleid zeigte, winkte er nur ab. Er schüttelte den Troubadouren die Hand und sank dann wieder in die Kissen.
Avrohoms feuriges Haar und seine lebhaften blauen Augen ließen das Zimmer gleich heller wirken, als er die anderen Mitglieder der Truppe vorstellte. Der Lyraspieler, Negasi, mit dem enormen Schnurrbart und der glänzenden
Glatze lächelte breit. Jeffrey, dessen Finger auf den Saiten der Laute zaubern konnten, erinnerte mit seinen roten Backen und dem kugelrunden Bauch an einen reifen Apfel.
Nachdem der Trommler, Zeb, den Umhang abgelegt hatte und seine muskulösen braunen Arme zum Vorschein gekommen waren, schien er Platz für zwei zu brauchen.
Nach der allgemeinen Begrüßung wandte sich Avrohom an Selid. »Wir sind hier, weil in deiner Nachricht von etwas außerordentlich Wichtigem die Rede war.«
»Danke, dass ihr gekommen seid«, antwortete Selid.
»Ich koche uns einen Tee, bevor wir darüber sprechen.«
Sie war gerade dabei, den Kessel vom Herd zu nehmen.
Bryn half ihr und stellte Tassen hin.
Als alle versorgt waren, hielt Selid eine Schriftrolle hoch, die mit rotem Band zusammengebunden war. »Eine Botschaft für Königin Alessandra«, sagte sie. »Sie muss sicher in ihre Hände gelangen. Es gibt keinen geeigneteren Überbringer dafür als die Gilgamelltrappe.«
Mit gerunzelter Stirn warf Avrohom sein Haar zurück.
»Wir sind Troubadoure. Warum schickst du die Rolle nicht mit einem normalen Boten?«
»Die Königin selbst muss diese Botschaft lesen, nicht einer ihrer Diener. Es ist eine Prophezeiung.«
»Eine Prophezeiung?« Dawn blickte Selid misstrauisch an. »Aber …«
»Ihre Majestät weiß nichts davon, dass ihre Tochter Zorienne von Mednonifer, dem Leibarzt der Königin, vergiftet wird«, verkündete Selid. Sie sprach ruhig, aber irgendetwas in ihrer Stimme erinnerte Bryn daran, wie sie den Meisterpriester angeschrien hatte, als sie im Wüstensand kniete. Ellerth wird Euch begraben, Renchald.
Ich hob es gesehen!
»Wie ist das möglich?«, rief Dawn.
»Ich habe die Vision erst vor kurzem erhalten«, erzählte Selid. »Ich fürchte, das Orakel hat schon längere Zeit versucht, zu mir durchzudringen. Ich kann nur hoffen, dass es nicht zu spät ist. Zorienne schwebt in großer Gefahr. Wenn sie weiterhin Gift bekommt, wird sie nicht mehr lange leben.«
Alle blickten sie wie gebannt an.
Die weit zurückliegende Erinnerung daran, wie sie das erste Mal die Stimme des Orakels gehört hatte, stieg in Bryn auf: Hüte dich vor seinem schlafenden Tod. Und sie
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