Das Licht ferner Tage
Mavens saß hinter einem unaufgeräumten Schreibtisch. Er hatte die Füße auf einen Stapel Aktenordner gelegt, das Jackett ausgezogen, die Krawatte gelockert und schaute Nachrichten auf einer kleinen Soft-Screen an. Mit einer Handbewegung bedeutete er Bobby, still zu sein.
Es ging darum, dass die Wahrheitsschwadronen der Bürger ihre Aktivitäten nun auch auf die dunklen Winkel der Vergangenheit ausdehnten, nachdem – auf massiven Druck der Öffentlichkeit hin – die Vergangenheitsbetrachtungs- WurmCams dem Privatanwender zur Verfügung standen.
Wenn die Leute einmal nicht in der Vergangenheit ihrer Mitmenschen herumschnüffelten oder ihr jüngeres Ich mit Ehrfurcht, Verwunderung oder Scham betrachteten, richteten sie den gnadenlosen Blick der WurmCam nun auf die Reichen und Mächtigen. Es hatte eine Rücktrittswelle bei Behörden, Organisationen und Unternehmen eingesetzt, nachdem etliche Verbrechen der Vergangenheit entrissen worden waren. Eine Reihe alter Konflikte flammte wieder auf. So wurde zum Beispiel der Skandal, dass die Tabakindustrie nicht nur um die süchtigmachende und toxische Wirkung ihrer Produkte wusste, sondern sie sogar manipulierte, wieder angeheizt. Das Engagement und der Profit der großen Konzerne in Nazi-Deutschland – von denen viele noch existierten, ein paar davon in Amerika – war viel größer gewesen, als man bisher angenommen hatte. Die Begründung, die Entnazifizierung sei nur deshalb auf halbem Weg abgebrochen worden, um den Wiederaufbau nach dem Krieg nicht zu behindern, mutete aus dieser zeitlichen Distanz fragwürdig an… Die meisten Computer-Hersteller hatten die Kunden nur unzureichend vor den im Mikrowellen-Frequenzbereich getakteten Mikrochips abgeschirmt, die im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts auf den Markt gekommen waren und einen rapiden Anstieg der Krebsrate verursacht hatten…
»Soviel zur Behauptung, der Normalbürger hätte nicht die notwendige Reife für den Umgang mit einer so mächtigen Technologie wie dem Vergangenheitsbetrachter«, sagte Bobby. »Ich habe den Eindruck, die WurmCam wird durchaus verantwortungsvoll eingesetzt.«
Mavens grunzte. »Vielleicht. Obwohl wir alle die WurmCam auch für Schweinkram benutzen. Wenigstens prügeln diese Kreuzzugs-Typen nicht nur auf die Regierung ein. Ich war immer der Ansicht, die Großkonzerne würden eine größere Gefahr für die Freiheit bedeuten als alles, was wir vielleicht tun. Stattdessen hat die Regierung sie in Schach gehalten.«
Bobby lächelte. »Wir – OurWorld – sind ebenfalls von dieser Mikrowellen-Sache betroffen. Die Höhe der Schadenersatzansprüche wird noch ermittelt.«
»Jeder entschuldigt sich bei jedem. Was für eine Welt… Bobby, ich muss Ihnen sagen, dass nach wie vor keine Aussicht besteht, in Ms. Manzonis Fall weiterzukommen. Aber wir können darüber sprechen, wenn Sie möchten.« Mavens wirkte erschöpft und hatte schwarze Ringe um die Augen, als ob er sich die Nacht um die Ohren geschlagen hätte.
»Wenn es keinen Fortschritt gibt, wieso bin ich dann hier?«
Mavens schaute ihn unglücklich an. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und wirkte irgendwie derangiert. Wo war die jugendliche Sicherheit geblieben, an die Bobby sich bei ihm erinnerte? »Weil ich plötzlich jede Menge Zeit habe. Ich bin aber nicht suspendiert worden, falls Sie das glauben. Nennen wir es einen Ermittlungsurlaub. Einer meiner alten Fälle wird wieder aufgerollt.« Er beäugte Bobby. »Und…«
»Was?«
»Ich möchte herauskriegen, welche Auswirkungen Ihre WurmCam wirklich auf uns hat. Nur ein Beispiel. Sie erinnern sich an den Wilson-Mord?«
»Wilson?«
»Hat sich vor ein paar Jahren in New York ereignet. Ein Teenager aus Bangladesh – er hatte bei der Überschwemmung 2033 seine Eltern verloren.«
»Ich erinnere mich.«
»Die UN-Flüchtlingsbehörde hatte für diese Person namens Mian Sharif Adoptiveltern in New York gefunden. Ein kinderloses Ehepaar im mittleren Alter, das schon ein Kind – ein Mädchen namens Barbara – adoptiert und mit Erfolg aufgezogen hatte. So glaubte man.
Der Fall schien klar. Mian wird zu Hause getötet. Vor und nach dem Tod verstümmelt und scheinbar vergewaltigt. Der Vater war der Hauptverdächtige.« Er verzog das Gesicht. »Die Familienangehörigen gelten immer als die Hauptverdächtigen. Ich hatte den Fall bearbeitet. Die Ergebnisse der Gerichtsmedizin waren uneinheitlich, und in Wilsons Psychogramm war auch keine besondere Neigung zur Gewalt zu erkennen, ob
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