Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)
versetzen?
Da begriff sie: Es war ihre Mitgift.
Schritte kamen die Treppe hoch. April nahm die Brosche und das Geld, stemmte das Fenster auf und schwang sich hinaus.
Die Tür wurde aufgestoßen, und der Stallknecht stolperte herein. Einen Moment blieb er fassungslos stehen, und ihre Blicke trafen sich, Mondschein in seinen Augen.
»Sei einfach still«, flüsterte April. »Ist mein Geburtstag, weißt du?«
Dann glitt sie vom Sims und ließ sich fallen.
WAS MAN KRIEGT, WENN MAN SICH MIT FREMDEN EINLÄSST
S ie kam ganze drei Tage weit, ehe sie am Ufer eines kleinen Sees zusammenbrach.
Nachdem der Bauer, in dessen Scheune sie sich zuletzt versteckt hatte, sie vertrieben hatte, war sie fast die ganze Nacht gelaufen. Ihre Füße waren blutig, und die letzte warme Mahlzeit, die sie gehabt hatte, waren wohl die Nüsse auf dem Jahrmarkt gewesen. Außer für ein wenig Brot hatte das Geld, das sie ihrem Vater gestohlen hatte, noch für eine Decke und einen Wasserschlauch gereicht. Sie hatte diese Wahl für richtig gehalten, aber der Wasserschlauch war undicht, und die Decke war in der ersten Nacht im Freien feucht geworden und fing an, einen üblen Geruch zu verströmen. Mit großer Sicherheit war dies die am schlechtesten geplante Flucht aller Zeiten.
Zurück aber konnte sie nicht. Sie wusste nicht, ob ihr Vater tot war, und beim Gedanken daran wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Doch sie fürchtete, dass sein Freund – ihr künftiger Ehemann – nach ihr suchen und man sie verhaften und in ein Gefängnis stecken würde. Auch die Brosche traute sie sich nicht zu verkaufen, ganz davon abgesehen, dass sie wahrscheinlich keinen ordentlichen Preis dafür bekommen hätte. Ein ums andere Mal hatte sie sich in Gräben und Wäldchen versteckt, wenn sich Reiter oder Soldaten näherten. Die meiste Zeit war sie nach Südosten gegangen, in Richtung der Berge, weil das die Richtung der anderen Sonne war. Aber bis auf gelegentliche Straßenschilder,die sie nur unter größten Mühen entzifferte, ohne dass die Namen darauf ihr irgendetwas gesagt hätten, hatte sie nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand.
Gegen Morgen war sie so durchgefroren, dass sie zitterte, und die kalte Luft stach in ihren Lungen. Seit Stunden war ein feiner Nieselregen niedergegangen, der nun endlich nachzulassen schien, und ihre Haare klebten ihr am Nacken und in der Stirn. Dann brach die Sonne zwischen den Wolken hervor und die Strahlen fielen auf eine grasbewachsene Uferböschung in der Nähe eines Walds. April taumelte ans Ufer, sank auf die Knie, schöpfte mit beiden Händen Wasser aus dem See und trank einen tiefen Schluck. Dann rollte sie sich in der Sonne auf die Seite und schlief ein.
Erst als jemand sie sachte anhob und ihr das Haar aus der Stirn strich, kam sie wieder zu sich. Sie öffnete die Augen und erblickte einen vornehm gekleideten Herrn mit einem ausladenden Hut und einem Oberlippenbart, der sie aufmerksam studierte.
»Du liebe Güte, beruhig dich«, amüsierte sich der Fremde. »Du bist in guten Händen.«
Er half ihr, sich aufzusetzen, und sie sah, dass er eine Decke neben ihr am Ufer ausgebreitet hatte. Auf der Decke lagen eine Satteltasche mit Essen und eine Flasche Wein, und ein paar Schritt weiter graste sein Pferd. Es war ein schöner Rappe mit schimmerndem Fell. Sonnenschein funkelte auf den Beschlägen der Satteltasche und überzog die Oberfläche des Sees mit einem glitzernden Teppich. Aprils Kleid war getrocknet, aber fast so steif wie ihr Rücken. Ihr Atem ging rasselnd.
»Ich habe Hunger«, sagte sie.
»Aber natürlich.« Mit einem langen Messer schnitt er ihr frisches Brot und Käse und reichte es ihr zusammen mit etwas Trockenobst. »Sag, was verschlägt dich in diese Gegend?«
»Verlaufen«, entgegnete April.
Der Fremde musterte sie. »In der Tat siehst du aus, als ob du ein längeres Wegstück hinter dir hättest – und nicht das angenehmste,wenn du mir die Bemerkung gestattest. Du bist ein tapferes Mädchen, dich allein durch einen solchen Landstrich zu wagen.«
»Wieso?«, fragte sie, misstrauisch, was der Fremde von ihr wollte, und wieso er ihr half. Das Essen schmeckte ihr aber so gut, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
»Nun, es gibt Räuber«, sinnierte der Fremde. »Was für ein Mann lässt seine Tochter da allein durch die Wildnis reisen?«
April hustete und beobachtete ihn wachsam.
»Etwas Wein zum Essen?«, fragte der Fremde.
»Ich glaube nicht …«
»Oh, du
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