Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

als die formvollendetste erschien. Ihr Leben oder das ihres Gegners waren nur verschiedene Blickwinkel in diesem Bild.
    Bald merkte sie, dass Dougal ihr mit dem Schwert unterlegen war. Es war aber nicht seine schärfste Waffe in diesem Kampf, der weniger ein Ringen als die Umarmung zweier lange getrennterVerwandter war. Irgendwann während dieser Umarmung neigte er das Haupt und hörte auf, Dougal zu sein: Vor ihr, mit dargebotenem Hals, stand Senator Tial, ihr Vater.
    Du hast mich gefunden , schien auch er ihr zu sagen. Er breitete die Arme aus, um sie willkommen zu heißen. Er trug keine Waffen, doch die brauchte er nicht. Er parierte ihren Hass mit einem Lächeln, ihre Wut mit seiner Demut. Er war ihr Vater, der sie geliebt und die Wahrheit immer vor ihr verborgen hatte, um sie nicht zu verlieren – doch ohne zu ahnen, dass es die Saat dieser Wahrheit war, die in ihr gedieh und seine Frau das Leben gekostet hatte. Er bat sie um Verzeihung, und sie konnte ihn nicht töten. Sie ließ das Schwert sinken.
    Dann verwehte ihr Vater in einem Sturm verschiedener Formen. Es war, als blätterte ein Betrüger schnell durch ein Kartenspiel: Sie sah Männer und Frauen und sogar Kinder; sie sah Odwyn und die wilde Frau, die Lesardre im Sommerland getötet hatte. Sie sah Menschen und Tiere, Wölfe, Füchse, Wild, Vögel jeder Größe und jeden Gefieders, sie sah Fealva und Eolyn. Und je länger sich der Wahnsinn hinzog, desto mehr schienen all die Gestalten zu einer einzigen zu verschmelzen und alle Farben in Weiß aufzugehen. Schließlich stand nur noch eine Gestalt vor ihr, und es war dieselbe wie zu Beginn – doch nicht Dougal.
    Es war Lesardre. Er trug seinen Brustpanzer und sein geflammtes Schwert, und er lächelte wie in jener Nacht an dem See, in der sie bei Mondschein ihre Geheimnisse geteilt hatten.
    Du hast mich gefunden .
    Er warf sein Schwert weg und zog die schwarzen Handschuhe aus, legte Umhang und Rüstung ab und riss sich das Wams auf. Dann trat er vor sie, bleich wie der Tod von seiner flachen Brust bis zu seinem spinnwebfeinen Haar, und einen Moment war er so schön wie sein Schwert, so süß und bitter wie Gift.
    Sie sahen sich in die Augen, er und sie. Dann streckte er die Arme weit aus und hieß sie ein letztes Mal willkommen.
    Cassiopeia hob das milchweiße Schwert und stieß es ihm langsamins Herz. Und in diesem Moment, in dem sie in ihn eindrang, glaubte sie, sich selbst in seinem Blick zu finden.
    Es floss kein Blut auf ihre Hand. Helles Licht verschmolz Schwert und Erscheinung zu einem einzigen Wesen. Die Klinge drehte sich wie ein Schlüssel im Schloss. Dann änderte der Wechselbalg ein letztes Mal seine Gestalt und wurde zu dem Einen, dem Ersten, dessen Namen sie nicht kannte, warf die Hülle seines Fleisches ab und schwang sich empor – in all seiner Pracht.

NESEJA
    W as ist passiert?, dachte Sarik.
    Ich habe dich gefunden , antwortete das Irrlicht, und seine Stimme drang zu ihm wie von einem sehr fernen Ort.
    Zu seinen Füßen lag April, zusammengekauert, die Knie zum Kinn gezogen. Er beugte sich über sie, um zu sehen, ob sie noch lebte.
    Auch sie , dachte das Irrlicht. Ihre Hand tat wieder weh. Es geht ihr jetzt besser.
    Sarik ließ den Blick über die verheerte Ebene schweifen – die brennenden Zelte, die Verletzten, die sich gegenseitig aus den Trümmern zogen oder die Gesichter im Schmutz verbargen – und erkannte, dass erst wenige Minuten seit der Vernichtung des Ordens vergangen waren; und nur Augenblicke, seit die Wesenheit ihn und April angegriffen hatte. Er erinnerte sich an ihre furchtbare Macht, und ihre Verachtung, wie ein Kind, das einen Käfer zertritt. Wohin war sie verschwunden?
    Sie sind mir gefolgt , dachte das Irrlicht.
    Gefolgt? Du meinst …
    Alle. Sie machen mir Angst.
    Da begriff Sarik.
    Du warst gestürzt … Ich habe dich wieder aufgestellt.
    »Du bist in Navylyn?«, rief er laut. »Aber wie ist das möglich?« Die Tore waren offen , erwiderte das Irrlicht, als ob damit alles erklärt wäre.
    »Und die Wesenheiten sind auch dort?«
    Ich habe mich eingeschlossen. Sie wollen herein. Ich glaube, sie wollen mich holen.
    Ihm fehlten die Worte. Es schien, als hätte das Irrlicht sie für den Moment gerettet, indem es die Aufmerksamkeit der Wesenheiten auf sich selbst zog – auf sich und den einzig verbliebenen Ort, von dem man den Zugang von dieser Welt zu den höheren Sphären kontrollieren konnte.
    Was er nicht verstand, war, wie es dort aus eigener Kraft hatte