Das Licht von Shambala
- ihn bewachten die Soldaten mit besonderem Argwohn.
»Lady Kincaid!«, rief Abramowitsch laut, wobei er sich um seine Achse drehte, damit er nach allen Seiten zu hören war. Anders als an Bord der ›Strela‹ sprach er nicht Deutsch, sondern Englisch. »Wo stecken Sie? Bitte ersparen Sie mir und meinen Männern die Mühe, diesen öden Landstrich nach Ihnen zu durchsuchen. Bestimmt gibt es Argumente, die Sie überzeugen werden, sich rasch zu ergeben.«
Auf sein Kopfnicken hin hob Igor abermals die Waffe und trat auf Hingis zu. Drohend schwebte der noch immer rauchende Lauf des Revolvers vor der Schläfe des Schweizers, der krampfhaft die Augen zusammenkniff. Es bestand kein Zweifel, dass Abramowitschs Handlanger ohne Zögern einen weiteren kaltblütigen Mord begehen würde.
Sarah handelte augenblicklich.
Der Russe hatte alle Trümpfe auf seiner Seite. Das Versteckspiel fortzusetzen wäre völlig unsinnig gewesen.
»Ich bin hier!«, rief sie und erhob sich. Gleichzeitig ließ sie den Colt Frontier sinken.
Abramowitsch schaute zu ihr herauf. Dann gab er einen knappen Befehl, und zu Sarahs Verblüffung tauchten schon einen Lidschlag später zwei weitere Dutzend Marinesoldaten aus dem Dickicht auf. Das Gelände war geradezu durchsetzt von ihnen.
Die Männer entwaffneten Sarah und führten sie mit vorgehaltenen Waffen hinunter zu den anderen. Für das hämische Grinsen, mit dem Abramowitsch sie willkommen hieß, hätte sie den Russen am liebsten geohrfeigt. Anders als die Soldaten unter seinem Befehl trug er keine Uniform, sondern einen grauen Wachsmantel, dessen weit geschnittene Form ihm in Sarahs Augen etwas Dämonisches verlieh.
»Wer hätte gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen?«, fragte er feixend.
»Sie sind ein gewissenloser Mörder«, zischte Sarah nur, auf den leblosen Körper ihres Führers deutend. »Yuri hat Ihnen nichts getan.«
»Das sehe ich anders«, stellte Abramowitsch klar. »Immerhin hat er mich verraten und sich wieder auf Ihre Seite geschlagen. Allerdings war mir die ganze Zeit über klar, dass dies geschehen würde. Etwas in seiner schlichten, allzu durchschaubaren Persönlichkeit machte es unvermeidlich. Aber sorgen Sie sich nicht um ihn, Lady Kincaid - er ist entbehrlich.«
»Natürlich«, stimmte Sarah bitter zu. »Wie so viele, deren Sie sich schon entledigt haben, nicht wahr?«
»Wenn es nötig ist.« Der Russe zuckte mit den Schultern.
»Warten Sie es ab, Abramowitsch. Der Tag, an dem die Bruderschaft zu dem Schluss kommen wird, dass auch Sie Ihren Zweck erfüllt haben und entbehrlich sind, wird kommen.«
»Da ist sie wieder, diese ominöse Bruderschaft.« Abramowitsch schürzte die Lippen. »Ich muss zugeben, dass ich noch manchen Gedanken an den bemerkenswerten Schlussmonolog verschwendet habe, mit dem sie von der ›Strela‹ verschwunden sind, auch wenn ich gestehen muss, dass ich keine Ahnung habe, wovon Sie da eigentlich sprechen.«
»Lügner«, zischte sie. »Ich habe die Furcht in Yuris Augen gesehen, als er von Ihnen sprach, eine Angst, wie sie nur ...«
»Was?«, hakte er nach, als sie plötzlich verstummte.
»Sie arbeiten nicht für die Bruderschaft«, flüsterte Sarah, der plötzlich klar wurde, was Hieronymos gemeint hatte, als er von »Unwissenden« sprach.
»Natürlich nicht. Ich stehe in den Diensten seiner Majestät des Zaren.«
»Sie sind ein Spion«, drückte Sarah es weniger schmeichelhaft aus.
»Wenn es genehm ist, bevorzuge ich den Ausdruck ›Agent‹«, verbesserte der Russe und nahm Haltung an. »Hauptmann Viktor Abramowitsch von seiner Majestät Geheimpolizei.«
»Die Ochrana«, flüsterte Sarah.
Sie hatte von dem gefürchteten Geheimdienst gehört, den Zar Alexander III. vor wenigen Jahren ins Leben gerufen hatte, hauptsächlich, um seine eigenen Untertanen zu bespitzeln und sie daran zu hindern, Aufstände anzuzetteln. Aber wohl auch, um internationale Spionage zu betreiben.
»Offenbar«, meinte Abramowitsch, »ist unser Ruf uns bereits vorausgeeilt.«
»Wenn Sie unter ›Ruf‹ verstehen, dass ich gehört habe, wie in Ihrem Land unschuldige Menschen ins Gefängnis gesteckt und wehrlose Bauern verprügelt werden, dann haben Sie recht«, konterte Sarah schnaubend.
»S-Sie sind ein Spion in zaristischen Diensten?«, fragte Friedrich Hingis fassungslos.
»Genau das, Doktor!«
»Dann protestiere ich gegen unsere Festnahme auf das Entschiedenste«, ereiferte sich der Schweizer. »Was Sie hier tun, verstößt gegen jedes
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