Das Licht von Shambala
herüberstarrte.
»Bei allem gebührenden Respekt, Großmeister!« Aus Gräfin Czernys Zügen sprach pures Unverständnis. »Es gibt keinen Grund, sie am Leben zu lassen. Sie ist unsere Feindin, und sie ist gefährlich.«
»Oui, c'est vrai - aber sie kann uns auch immer noch von Nutzen sein.«
»Wozu?« Czerny schüttelte den Kopf und blickte demonstrativ an sich herab. »Wir haben alles, was wir brauchen.«
»Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, Gräfin, und ich sage es Ihnen wieder - versuchen Sie nicht, mich zu übervorteilen.«
»Aber nein, ich ...«
»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass ihr Auftauchen«, - du Gard deutete auf Sarah und ihre Gefährten -, »mehr als ein bloßer Zufall sein könnte? Vielleicht ist es ein Wink des Schicksals, schon jetzt zu bekommen, worauf wir andernfalls noch einige Monate warten müssten.«
»Vergessen Sie's«, knurrte Sarah hasserfüllt. »Lieber würde ich sterben.«
»D'accord«, beschied ihr der Franzose gelassen. »diese Möglichkeit bleibt uns immer noch, n'est-ce pas? Bringt sie weg«, wies er dann seine Handlanger an, »sie sollen Gelegenheit haben, über alles nachzudenken.«
Sarah wurde auf die Beine und davongezerrt. Erneut wehrte sie sich nach Kräften, trat und schlug um sich, und für einen Moment gelang es ihr sogar, den Pranken ihres Häschers zu entkommen. Wie ein Fisch entwand sie sich seinem Griff, dabei kam sie jedoch ins Taumeln und fiel hin. Als sie sich wieder auf die Beine rappeln wollte, stand plötzlich jemand vor ihr. Sie blickte auf - und schaute in das Gesicht Ludmilla von Czernys.
»Angenehme Ruhe, Schwester«, sagte sie.
Im nächsten Moment wurde Sarah von etwas hart und schwer am Hinterkopf getroffen.
Der Schmerz war so heftig, dass er ihr bis in die Fingerspitzen und hinab bis zu den Zehen zuckte. Sarah war wie erstarrt.
Dann verlor sie die Besinnung.
10.
M OUNT K AILASH
K ATAKOMBEN
M ORGEN DES 23. J UNI 1885
Das Erwachen war grässlich.
Auf nacktem, kaltem Stein liegend, kam Sarah zu sich. Ihr Schädel dröhnte, ihre Glieder schmerzten, und im Hals hatte sie den ekligen Geschmack von geronnenem Blut. Stöhnend wälzte sie sich herum - um in die besorgten Mienen zweier Männer zu blicken, die neben ihr kauerten.
»Gott sei Dank«, stieß Friedrich Hingis hervor und bekreuzigte sich, und sogar in Viktor Abramowitschs bärtigen Zügen war ein Hauch von Erleichterung zu erkennen.
Sarah griff an ihren schmerzenden Hinterkopf und fühlte getrocknetes Blut, das ihr Haar verklebte. Sie erinnerte sich an alles, was geschehen war, vor allem jedoch standen ihr die hämisch grinsenden Züge Ludmilla von Czernys vor Augen, ihrer erklärten Feindin, die den ultimativen Triumph über sie davongetragen hatte.
»Wo ist sie?«, fragte Sarah nur.
»Wer? Czerny?«
Sarah nickte, was ziemlich schmerzte.
»Ich weiß es nicht.« Hingis schüttelte den Kopf. »Wir haben sie seit Stunden nicht mehr gesehen.«
»So lange sind wir bereits hier?« Sarah schaute sich um. Sie befanden sich in einem niedrigen Felsengewölbe, das einst als Vorratslager gedient haben mochte. Die Tür war aus rostigem Metall und hatte eine kleine vergitterte Öffnung, durch die schwacher Fackelschein hereindrang.
Hingis nickte. »Draußen muss es inzwischen Tag sein.«
Schwerfällig richtete sich Sarah auf und massierte die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger, den pochenden Schmerz in ihren Schläfen versuchte sie zu ignorieren. Man hatte ihnen die Handfesseln abgenommen. Immerhin etwas.
»Falls Sie an Flucht denken«, knurrte Abramowitsch verdrießlich, »das können Sie vergessen. Die Tür ist doppelt verriegelt, und draußen wimmelt es nur so von Wachen.«
»Ich denke keineswegs an Flucht, Hauptmann«, stellte Sarah klar. »Meine Pläne sind gänzlich anderer Natur.«
»Es gibt noch einen Plan?« Der Russe verdrehte die Augen. »Da bin ich aber erleichtert. In meiner Naivität hatte ich schon gedacht, Sie hätten die Kontrolle über dieses Unternehmen verloren.«
»Bitte«, ermahnte Hingis ihn. »Ihr Sarkasmus bringt uns nicht weiter. Außerdem sind Sie freiwillig mitgekommen, mein Herr. Niemand hat sie gezwungen.«
Dem konnte der Ochrana-Agent nicht widersprechen. In stiller Wut biss er sich auf die Lippen.
»Immerhin«, meinte Hingis vorsichtig, an Sarah gewandt, »wissen wir nun, warum uns das Eine Auge nicht länger verfolgt hat.«
»In der Tat.« Sie nickte, während sie im Halbdunkel blicklos vor sich hin starrte. »Sie haben einen Weg
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