Das Licht von Shambala
Mantel und einen schäbigen Zylinderhut trug, stand unten am Kai, in der Hand eine Laterne. Kapitän Terzow rief etwas hinunter, das sich wie eine Frage anhörte und das der Mann mit dem Zylinder wie aus der Pistole geschossen beantwortete.
Eine Losung, vermutete Sarah, ein vereinbartes Erkennungswort.
Ihr Verdacht bestätigte sich, als Terzow dem Zylinderträger zuwinkte und dieser daraufhin die Laterne schwenkte. Im nächsten Augenblick war ein leises Rumpeln zu hören, und aus der Nebelwand, die sich jenseits der Kaimauer erhob, schälten sich die Umrisse zweier schwerer Fuhrwerke, die mit großen Holzkisten beladen waren. Igor nickte und ließ ein zufriedenes Brummen vernehmen, was darauf schließen ließ, dass sich der Streit der Russen auf diese Wagen bezogen hatte. Offenbar hatte die Lieferung auf sich warten lassen, was Abramowitschs Diener sichtlich nervös gemacht hatte.
Was aber befand sich in den Kisten?
Die Laternen an den Fuhrwerken waren ebenso gelöscht worden wie die auf der ›Strela‹, und die Hufe der Pferde hatte man in Säcke gesteckt, um ihre Geräusche auf dem Pflaster zu dämpfen. Die Männer auf den Kutschböcken hatten sich ihre Hüte und Mützen tief in die Gesichter gezogen und blickten starr vor sich hin wie jemand, der nicht erkannt werden wollte.
Was hatte das zu bedeuten? Warum nahm die ›Strela‹ mitten in der Nacht Ware an Bord? Und was sollte die Geheimnistuerei?
Die Antwort lag auf der Hand, und sie gefiel Sarah ebenso wenig, wie Abramowitsch selbst: Der angeblich so ehrbare Kaufmann, auf den Friedrich Hingis solch große Stücke hielt, war ein Schmuggler!
Sarah konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Das also war das Geheimnis jener Geschäftserfolge, von denen der Russe so gerne erzählte. Der Russe handelte mit Waren, die er an den Behörden vorbei außer Landes brachte und meistbietend verhökerte - vermutlich Waffen, Alkohol und anderes Zeug, mit dem sich auf dem Weltmarkt viel Geld verdienen ließ.
Hätte Abramowitsch in Sarahs Wertschätzung nicht ohnehin schon auf der untersten Stufe rangiert, wäre er spätestens in diesem Augenblick dort gelandet. Das letzte Quäntchen Sympathie, das sie noch für ihn empfunden hatte, verflog wie ein lauer Windhauch.
Zwar hatte sie nicht übel Lust, den Russen zur Rede zu stellen, aber natürlich entschied sie sich dagegen. Abramowitsch und seine Leute würden alles abstreiten, und vermutlich würde ihr nicht einmal Hingis glauben, sondern annehmen, dass sie sich lediglich für die Niederlage beim Abendessen revanchieren wollte. Und selbst wenn er ihr Glauben schenkte, war damit nichts gewonnen; denn wenn Abramowitsch der Strolch war, für den Sarah ihn hielt - und dafür schien im Augenblick alles zu sprechen -, dann würde er auch nicht davor zurückschrecken, unliebsame Mitwisser auf hoher See über Bord zu werfen. Und da Sarah und Hingis die osmanischen Behörden umgangen hatten, existierte noch nicht einmal ein offizieller Beweis dafür, dass sie Konstantinopel je verlassen hatten, sodass niemand je auf den Gedanken kommen würde, den Russen zu verdächtigen.
Abramowitsch schien sehr genau zu wissen, was er tat, also blieb Sarah nur, ihre nächtliche Beobachtung für sich zu behalten. Lautlos zog sie sich in den Mittelgang zurück und ging zurück zu ihrer Kabine. Ihr ursprüngliches Vorhaben, sich bei Friedrich Hingis zu entschuldigen, hatte sie allerdings aufgegeben.
Denn wie sich gezeigt hatte, war ihr Misstrauen gegen Viktor Abramowitsch nur zu begründet.
2.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Von Varna aus haben wir Odessa angesteuert, die alte Hafenstadt an der Nordküste des Schwarzen Meeres, wo wir drei Tage vor Anker lagen und das Osterfest verbrachten. Weder Friedrich noch el-Hakim gegenüber habe ich ein Wort von dem verloren, was ich in jener nebligen Nacht beobachtet habe, jedoch nehme ich an, dass es das Warten auf weitere Schmuggelware gewesen ist, das uns in Odessa festgehalten hat.
Seit heute Morgen nun haben wir Kurs auf Sewastopol genommen, das wir bei günstigem Wetter in zwei Tagen erreichen werden. Dass Gardiner Kincaid schon vor mir hier gewesen ist und ich einmal mehr seinen Spuren folge, gibt mir ein seltsames Gefühl, zumal er mir von diesen Dingen nie erzählt hat. Vielleicht habe ich deshalb das Gefühl, verbotene Pfade zu beschreiten und ständig beobachtet zu werden.
Die Tage auf See verbringe ich meist in meiner Kabine mit dem Studium einiger Bücher, die ich in
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