Das Licht von Shambala
Abramowitsch mit einem säuerlichen Grinsen, das Sarahs zu karikieren schien. »Die Lage unserer Brüder auf dem Balkan ist mit der in Afrika oder anderen Gebieten nicht zu vergleichen.«
»Warum nicht? Weil es dort nur um ein paar hergelaufene Neger geht, während die Balkanvölker auf eine lange geschichtliche Tradition blicken?«
»Das ist ein Grund«, bestätigte Abramowitsch, ohne mit der Wimper zu zucken. »Außerdem ist Russland von alters her die Schutzmacht aller slawischen Völker und wurde von diesen um Unterstützung gebeten. Oder wollen Sie behaupten, die Hottentotten hätten sich die britische Besatzung gewünscht?«
»Weniger«, gab Sarah zu. »Aber ich glaube, offen gestanden, auch nicht, dass der Balkan großen Wert darauf legt, vom Zaren beschützt zu werden. Die Menschen dort haben das Joch der Fremdherrschaft eben erst abgeschüttelt. Ich denke nicht, dass sie ein Verlangen danach verspüren, es sofort wieder gegen ein neues einzutauschen.«
»Und das aus dem Mund einer Britin!«, schnaubte der Geschäftsmann, der nun erstmals tatsächlich wütend zu werden schien. Bislang war Abramowitsch stets gelassen geblieben und hatte sich darauf beschränkt, seine Gesprächspartnerin gönnerhaft an seiner Weisheit teilhaben zu lassen. Diesmal jedoch hatte Sarah einen Frontalangriff auf die russische Volksseele vorgetragen und dabei offenbar einen empfindlichen Nerv getroffen.
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte sie.
»Wie kann man nur so blind sein?«, begehrte der Russe auf. »Ist euch Briten denn nicht klar, dass es die Sorge vor der britischen Expansion ist, die unsere slawischen Brüder in unsere Arme treibt?«
»Tatsächlich?«, fragte Sarah dagegen. »Ich sehe eigentlich nur eine Großmacht, die in Europa Expansion betreibt und nach jedem Fetzen giert, den es aus dem Fleisch des Osmanenreiches reißen kann.«
»Die Osmanen sind am Ende, ihr Reich liegt am Boden«, entgegnete Abramowitsch mit entwaffnender Offenheit. »Wollen Sie mir erzählen, Ihre Regierung hätte kein Interesse daran, sich einen Teil des Staatsgebiets einzuverleiben?«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Sarah. »Sie werden sich erinnern, dass sowohl Großbritannien als auch Frankreich alle dafür nötigen Anstrengungen unternommen haben, ein Auseinanderfallen des Reiches zu verhindern. Dafür wurde auf der Krim ein hoher Blutzoll entrichtet ...«
»Kommen Sie mir nicht mit Rührseligkeiten«, blaffte der Russe. »Die einzige Absicht Ihrer Regierung bestand darin, sich unseren Interessen in den Weg zu stellen und zu verhindern, dass es am Schwarzen Meer zu einer Machtverschiebung kommt.«
»Sieh an«, konterte Sarah. »Der Zar verfolgt also doch Machtinteressen? Ich dachte, es ginge nur darum, Ihre slawischen Brüder zu beschützen?«
Abramowitsch bedachte sie mit einem stechenden Blick, und für einen Moment hatte es den Anschein, als glühten seine Augen nicht weniger als das Ende der Zigarre. Er nahm einen tiefen Zug, um sich zu beruhigen, was allerdings nicht zu verfangen schien. Wütend rammte er die Zigarre in den Aschenbecher.
Sarah konnte nicht verhindern, dass ein Lächeln der Genugtuung um ihre Lippen spielte. Über mehrere Tage hatte sie erfolglos versucht, Abramowitsch aus der Reserve zu locken, während es ihm bei ihr gleich am ersten Abend gelungen war. Der Russe war ein guter Taktiker. Nicht nur, dass er genau wusste, wie man Vorwürfe in den Raum stellte, ohne sie offen auszusprechen. Er verstand es auch, bei allem, was er über sich preisgab, stets unangreifbar zu bleiben, ein Schemen, den Sarah auch nach den knapp zehn Tagen, die sie nun gemeinsam an Bord weilten, noch immer nicht zu durchschauen vermochte: War Abramowitsch lediglich ein erfolgreicher Geschäftsmann oder ein ruchloser Schmuggler? Oder eine gerissene Mischung aus beidem?
Die Dispute, die sich nach dem Abendessen zwischen ihnen zu entspinnen pflegten und denen Friedrich Hingis und Kapitän Terzow beiwohnten, als wären sie Claqueure bei einer Partie Cricket, hatten folglich den Charakter eines Schachspiels angenommen: Um mehr über ihren Gegner zu erfahren, war Sarah Zug um Zug vorgegangen und hatte mitunter wertlose Informationen geopfert, um an vermeintlich wertvollere zu gelangen. Aufgrund von Abramowitschs Geschick war es bislang jedoch eine Partie mit offenem Ausgang geblieben, und nun drängte die Zeit. Im Morgengrauen würde die ›Strela‹ Sewastopol erreichen, und wenn es Sarah bis dahin nicht gelungen war, etwas über
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