Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
können.«
»Mag sein. Aber Sydney … ich stelle es mir riesengroß und wundervoll vor.«
»Verglichen mit London ist es ein kleiner Fisch.«
Isabel errötete. »Oh, ich wusste gar nicht, dass Sie schon dort waren. Das ist sicher eine richtige Stadt. Vielleicht fahre ich ja einmal hin.«
»Ich würde behaupten, dass Sie es hier besser getroffen haben. London ist … nun, es war ziemlich scheußlich, als ich auf Fronturlaub dort war. Grau und trist und kalt wie eine Leiche. Da ist mir Partageuse allemal lieber.«
»Gleich kommen wir zur schönsten Stelle hier. Zumindest finde ich, dass es die schönste ist.« Hinter den Bäumen war eine Landzunge zu sehen, die weit ins Meer hinausragte. Sie war lang und kahl, einige hundert Meter breit und wurde auf beiden Seiten von Wasser umspült. »Das ist die Spitze, nach der Point Partageuse benannt ist«, verkündete Isabel. »Mein Lieblingsplatz ist da unten links bei den großen Felsen.«
Sie gingen weiter bis zur Mitte der Landzunge. »Stellen Sie den Korb weg und folgen Sie mir«, wies sie ihn an. Im nächsten Moment riss sie sich ohne Vorwarnung die Schuhe von den Füßen und rannte los in Richtung der Felsen aus schwarzem Granit, die sich bis ins Wasser erstreckten.
Am Ufer holte Tom sie ein. Einige Felsen bildeten einen Kreis, in dem die Wellen wogten und plätscherten. Isabel legte sich auf den Boden und reckte den Kopf über die Kante. »Hören Sie«, sagte sie. »Hören Sie sich einfach die Geräusche an, die das Wasser macht. Wie in einer Höhle oder Kathedrale.«
Tom beugte sich vor und lauschte.
»Sie müssen sich hinlegen«, meinte sie.
»Um besser zu hören?«
»Nein, damit Sie nicht weggespült werden. Hier kann plötzlich Wasser hochspritzen. Wenn unerwartet eine große Welle kommt, landen Sie unter den Felsen, ehe Sie sich’s versehen.«
Tom legte sich neben sie und hielt den Kopf in die Öffnung, wo die Wellen dröhnend und hallend hin- und herschwappten. »Erinnert mich an Janus.«
»Wie ist es denn da? Man hört ja so manches, aber es fährt außer dem Leuchtturmwärter und dem Versorgungsschiff nie jemand hin. Einmal, vor vielen Jahren, war ein Arzt dort, weil eine ganze Schiffsbesatzung wegen Typhus unter Quarantäne gestellt war.«
»Es ist … Nun, wie kein anderer Ort auf der Erde. Es ist eine Welt für sich.«
»Das Wetter soll entsetzlich sein.«
»Es schlägt seine Kapriolen.«
Isabel setzte sich auf. »Sind Sie manchmal einsam?«
»Dafür bin ich zu beschäftigt. Ständig muss etwas repariert, überprüft oder aufgeschrieben werden.«
Sie neigte ein wenig skeptisch den Kopf zur Seite, ging aber nicht weiter darauf ein. »Gefällt es Ihnen?«
»Ja.«
Isabel lachte auf. »Sehr redselig sind Sie ja nicht.«
Tom erhob sich. »Hunger? Es ist sicher schon Zeit fürs Mittagessen.«
Er nahm Isabels Hand und half ihr beim Aufstehen. So eine zierliche Hand, weich und die Handfläche mit einer dünnen, rauen Schicht Sand bedeckt. Sie fühlte sich in seiner Hand so zart an.
Isabel servierte ihm Roastbeefsandwiches und Ingwerbier, gefolgt von Rosinenkuchen und knackigen Äpfeln.
»Schreiben Sie eigentlich an alle Leuchtturmwärter, die Dienst auf Janus haben?«, fragte Tom.
»Alle! So viele sind es ja nicht. Sie sind der erste neue seit Jahren.«
Tom zögerte, bevor er die nächste Frage aussprach. »Weshalb haben Sie geschrieben?«
Sie lächelte und trank einen Schluck Ingwerbier, bevor sie antwortete. »Weil es Spaß macht, mit Ihnen die Möwen zu füttern? Weil mir langweilig war? Weil ich noch nie einen Brief zu einem Leuchtturm geschickt habe?« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Hätte ich es besser lassen sollen?«
»Oh nein. Ich wollte nicht … ich meine …« Tom wischte sich die Hände an der Serviette ab. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart ständig ein wenig konfus, was etwas völlig Neues für ihn war.
Tom und Isabel saßen am Ende des Anlegestegs von Partageuse. Es war einer der letzten Tage des Jahres 1920, und die Brise machte Musik, indem sie kleine Wellen gegen die Bootsrümpfe schwappen ließ und an den Tauen der Masten zupfte. Die Lichter des Hafens spiegelten sich im Wasser, und am Himmel funkelten die Sterne.
»Aber ich will alles wissen«, beharrte Isabel, deren nackte Füße über der Wasserfläche baumelten. »Sie können nicht einfach behaupten, dass es da nichts zu sagen gibt.« Sie hatte ihm dürre Fakten über seine Zeit an einer Privatschule und seinen Abschluss als Ingenieur an
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